Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
nicht mehr von ihr nahm?
Schwere Schritte ließen sie aufblicken. Marcel de Lionesse, der Erzverweser von Marcilla, erschien wie aus dem Nichts. Er hatte wohl eine verborgene Tür hinter den Stufen des Throns benutzt. So wie er mussten wohl die Könige in alten Tagen ausgesehen haben. Er wirkte nicht wie für die blaue Robe eines Priesters geschaffen, war groß gewachsen und gut gebaut. Ein kantiges Kinn beherrschte sein Gesicht. Seine großen blauen Augen waren kalt wie das Wintermeer. Die leicht eingefallenen Wangen ließen ihn asketisch wirken. Gelocktes goldenes Haar fiel ihm bis auf die Schultern hinab. Er war blass wie ein Priester, der sich ein Leben lang in Bücherstuben vergraben hatte, doch sah diese Blässe bei ihm nicht ungesund, sondern gleichsam edel aus.
Michelle fragte sich, unter welchen Umständen ihre Schwester Marcel de Lionesse wohl kennengelernt haben mochte.
»Schwester Lilianne, ich hoffe in deinem Interesse, dass ich meinen Nachtschlaf nicht leerem Geschwätz geopfert habe.«
Lilianne verbeugte sich gerade tief genug, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Ihr Gesicht war hart. Aber auch sie wirkte erschöpft. »Deine Stadt hat dich reich gemacht, Bruder Erzverweser.«
Eine steile Falte furchte die Stirn des Priesters. »Ich trage Tjured in meinem Herzen. Mehr Schätze benötige ich nicht.«
In diesem Thronsaal klang das nach leeren Worten, dachte Michelle. Ihre Schwester wusste, wie man jemanden zu nehmen hatte. Sie wäre gewiss eine gute Fragende geworden.
»Entschuldige, Bruder, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe. Ich meinte, dein Amt hat dich reich an Verantwortung gemacht. So viele Seelen sind es, die du zu hüten hast. Und es betrübt mich, dass der Orden vom Aschenbaum all dies gefährdet.«
»Machen wir es doch kurz, Schwester Lilianne. Ich werde dir dein Schiff nicht zurückgeben!«
»Es ist vor allem die Mannschaft, die ich zurückhaben möchte, Bruder Erzverweser. Und das in Gottes Namen schnell!«
Der Priesterfürst sah sie an, als habe sie ihm ins Gesicht geschlagen. »Du vergisst dich …«
»Ich bin bei klarem Verstand. Ich …«
»Sich den Heptarchen zu widersetzen ist Ketzerei! Ihre Befehle sind eindeutig. Was glaubst du, hier erreichen zu können, Lilianne de Droy? Glaubst du, ich würde mich gegen die ersten Diener Gottes stellen? Bist du von Sinnen?«
»Ja! Von Sinnen vor Sorgen!«
Dem Kirchenfürsten war anzusehen, dass er nicht wusste, was er mit ihr anfangen sollte. Und Lilianne zog es in die Länge. Sie spielte mit ihm.
»Was für Sorgen?«, fragte Bruder Marcel endlich und hatte sich damit ihren Regeln gebeugt.
»Heute Morgen klagte meine geliebte Schwester über ein leichtes Fieber. Wir waren lange auf See, Bruder. Wir hatten zu wenig Obst, kein frisches Fleisch … Du kennst meinen
Orden. Bei uns isst selbst der Kapitän nicht besser als der niederste Pulverknecht. Ich dachte, es sei harmlos. Wir kamen nach Marcilla, um Vorräte zu ergänzen.« Lilianne sah zu Boden. »Du musst mir glauben, Fürst. Ich habe es nicht gewusst. Wirklich nicht. Ich dachte, es wäre die Erschöpfung. Das schlechte Essen. Ich weiß nicht …«
»Was weißt du nicht?«
»Bruder Marcel, du musst helfen!« Sie ging ihm zwei Schritt entgegen und dann ließ sie sich auf die Knie nieder. Michelle hatte ihre Schwester noch niemals knien gesehen. »Bitte, du musst handeln. Lass mich vor Gott und den Menschen nicht die sein, die das reiche und schöne Marcilla vernichtet hat. Bitte glaube mir, ich habe es wirklich nicht gewusst, Bruder Marcel. Ich habe es nicht gewusst!«
»Was, in Gottes Namen? Wovon redest du?«
»Zeigt euch«, sagte Lilianne matt. »Streift die Ölmäntel ab. Er muss es sehen. Gott vergib mir, dass ich meine Schwester und meinen Freund so demütige. Aber er muss es sehen, damit er versteht, wirklich versteht!«
Michelle öffnete den Mantel. Ihre Hände zitterten nicht allein wegen des Fiebers. Sie schämte sich auch ihres Körpers nicht. Aber sich so zur Schau zu stellen … Es war etwas anderes, mit ihren Brüdern und Schwestern in Valloncour nackt schwimmen zu gehen. Doch das hier …
»Los! Mach schon!«, drängte Lilianne.
Michelle ließ den Mantel aus Ölzeug sinken. Darunter trug sie nur ihre Stiefel. Sie wollte die Hand auf ihre Scham legen …
»Nein!«, fuhr ihre Schwester sie an. »Er muss den schwarzen Fleck sehen.«
Auch Drustan stand nackt da, allein mit seinen Stiefeln angetan. Er schlotterte vor Fieber. Sein Leib sah zum
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