Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
über ihre verletzte Hand. »Ja«, sagte er einfach nur. »Ja, ich werde ihn heilen.« Nie hatte er sie so verletzlich gesehen.
»Das werde ich dir niemals vergessen.« Sie beugte sich über die Kiste. »Wie konnten sie dir das antun, Winterauge? Zwei Jahre bist du schon in diesem Gefängnis, nicht wahr? Zwei endlose Jahre!«
Der Vogel sah Gishild an, als verstehe er sie. Seine Augen … Das waren keine Tieraugen, dachte Luc beklommen. Was für ein Geschöpf mochte das sein? Er sollte es nicht tun. Es musste einen guten Grund dafür geben, dass Lilianne diesen Adlerbussard gefangen hielt! Aber er konnte Gishild ihren Wunsch nicht abschlagen. Er wäre nicht mehr derjenige, der er für sie sein wollte, wenn er es täte.
»Ruhig, Winterauge.« Vorsichtig streckte Luc seine Hand vor. »Ich werde dir helfen. Ruhig. Du wirst wieder fliegen.«
»Nein!« Die Stimme war scharf, schneidend wie ein Peitschenhieb. Luc wich zurück. Eine nackte Gestalt schob die Plane des Baldachins zur Seite. »Du kannst ihn nicht heilen. Du würdest ihn vernichten! Fort von der Truhe mit dir!«
VON DER ANGST
Michelle hatte schon viel gesehen, doch selbst sie konnte sich der Pracht und Schönheit des Turmsaals nicht verschließen. Sie wusste, dass dieser Ort dazu geschaffen war, Gäste einzuschüchtern. Wer immer hierherkam, sollte sich gering, ja unbedeutend fühlen.
Von oben betrachtet, musste der Grundriss des Turmsaals, in dem sie sich befanden, etwa wie ein Schlüsselloch aussehen. Der runde hintere Teil, der eigentliche Turm, maß für sich gewiss schon fünfzehn Schritt im Durchmesser. Die Halle, die mit ihm verschmolzen war, war gewiss vierzig Schritt lang, und die reich geschmückte Kassettendecke erhob sich zehn Schritt über ihren Häuptern. Der ehemalige Turm wurde beherrscht vom Thron des Erzverwesers. Der Sitz, von dem aus der Kirchenfürst Recht sprach, war schlicht und schnörkellos, geschaffen aus weißem Marmor mit zarten grauen Adern. Ein flaches, rotes Kissen war der einzige Tribut an die Bequemlichkeit des Kirchenfürsten.
Fünf Stufen führten hinauf zum Thron. Das war hoch genug, um zu gewährleisten, dass, wer immer dort oben saß, auf Bittsteller und Angeklagte herabsehen würde.
Marmorskulpturen flankierten den Thron, wunderbare Kunstwerke, ganz anders als die üblichen Heiligenbilder. Die Statuen wirkten so, als seien die Heiligen gerade erst in der Bewegung erstarrt.
Besonders faszinierte sie die Statue der heiligen Gilda. Nach einem Schiffbruch war sie an einer Heidenküste gestrandet, und es hieß, ihre Schönheit, die sich offenbarte, als sie nackt den Fluten entstieg, habe die Herzen der Götzenanbeter so gerührt, dass sie den falschen Göttern abschworen. Und wenn man ihr Marmorbild sah, verstand man die Herzen der Heiden, so unglaublich schön war es. Makellos der Stein, erhaben das Haar, geformt aus wogendem Gold. Mit einer Hand bedeckte Gilda ihre Scham. Den Kopf hatte sie sanft zur Seite geneigt. Manche sagten, sie sei Tjureds vollkommenste Schöpfung gewesen. Wer dieses Standbild sah, der war überzeugt davon. Und das Bildnis der heiligen Gilda war nur eines unter Dutzenden wunderbaren Kunstwerken, die den weiten Saal füllten. Da waren Solferino, der mit dem Löwen rang, Michel Sarti, Tjureds erster Ritter, oder die heilige Ursulina auf ihrem Bären. An den Wänden hingen Gemälde, die das Auge so sehr täuschten, dass man glaubte, durch Fenster hinaus auf wunderbare Städte und Landschaften zu blicken. Astrolabien aus Gold, Perlen und Elfenbein zeigten den Lauf der Gestirne am Himmel. Auf Stehpulten lagen kostbare Handschriften. Die Blüte der Kultur und des Geistes war hier vereint. Und Michelle, die allein gut darin war, eine Klinge zu führen, fühlte sich verloren. Sie blickte zu ihrer Schwester, und wieder einmal wünschte sie sich, mehr so zu sein wie Lilianne. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie Freude daran hatte, all diese Wunderwerke zu betrachten, doch sie ließ sich nicht von ihnen vereinnahmen. Sie bewahrte einen kühlen Kopf. Aber ihr stand ja auch nicht
bevor, wie eine Gefangene auf einem Sklavenmarkt vorgeführt zu werden.
Es war Michelle schwergefallen, sich den Wünschen ihrer Schwester zu fügen. Die Fechtmeisterin verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr fröstelte; sie fühlte sich so elend, wie sie aussah. Fieberschübe hatten sie geschwächt. Und tief in ihr nistete die Angst. Sie war krank, dafür hatte Lilianne gesorgt. Was, wenn Tjured in seinem Zorn dieses Übel
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