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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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auszuweichen. Nach jeder Antwort ärgerte sie sich, dass sie gegeben hatte. Während des Gesprächs warf Frau Lissmann immer wieder einen Blick hinüber zu Paul, dessen Patientin sie war, und auf den sie, wie sie Anne wortreich berichtete, «nichts kommen» ließe. Zum ersten Mal merkte Anne, wie Paul auf andere Frauen wirkte, und zum ersten Mal in all der Zeit hatte sie ein Gefühl von Eifersucht, etwas, was ihr seit Jahrzehnten fremd war.
    Dann wurde gegessen. Und getrunken. Die Lissmanns tranken viel. Eine Flasche nach der anderen wurde entkorkt. Anne und Paul hielten mit. Sie hatten Spaß daran. Gegen neun Uhr bedankte sich Edward sehr charmant bei den Gastgebern und haute ab. Er wollte zu seiner Freundin. Pavel und Anuschka setzten sich auf die Hollywoodschaukel und redeten. Laura tobte mit dem Pudel herum. Nur Luis wurde maulig. Er fing an, Laura zu ärgern, stritt sich mit ihr. Beinahe kam es zu einer Prügelei zwischen den beiden, die Paul in letzter Minute verhinderte. Danach hatte Luis keine Lust mehr zu bleiben. Er drängelte. Alle sollten mitkommen. Doch der Abend war mild und schön und hell und die Stimmung heiter und die Gespräche unterhaltsam.
    «Dann geh allein nach Hause!», befand Anne. «Du kannst ja nicht erwarten, dass wir deinetwegen hier alle die Zelte abbrechen.»
    Sie gab ihm ihren Schlüssel und Luis haute ab. Zu Hause ging er nach oben in sein Zimmer, schaltete den Fernseher an. Aber es gab nichts, was ihn interessierte, also machte er ihn wieder aus. Er fühlte sich allein. Niemand war da. Frau Merk besuchte eine alte Bekannte, was sie meistens am Wochenende, wenn sie frei hatte, tat. Luis glaubte auf einmal, seltsame Geräusche zu hören, und rannte die Treppe hinunter und guckte sich ein wenig ängstlich überall um. Doch da war nichts und niemand. Während er herumschlich, kam er in Pauls Arbeitszimmer. Er besah sich die Bücherregal und die Gemälde und die Sammlung von Familienfotos in Silberrahmen, fröhliche Bilder aus alten Zeiten, die auf der Heizkörperverkleidung standen. Danach schnüffelte er auf dem Schreibtisch herum, setzte sich auf Pauls Stuhl, drehte sich darauf hin und her, und plötzlich fiel sein Blick auf die Aktenordner, die in einem Sideboard standen. Sie waren bunt, aus Plastik und von seiner Mutter beschriftet: Montemerano 1981 stand da, und Gran Canaria 1989, auf einem anderen Camping Spanien 1992, und auf dem daneben Rom Sommer 1994. Sie verwahrte auf diese Weise die Urlaubs- und Familienfotos. Liebevoll hatte Anne fast alle Fotos kommentiert, das war immer eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen im Winter gewesen: Wenn sie bei einem Glas Glühwein und im Schein einer Kerze nachts in ihrer alten Wohnung am Küchentisch gesessen hatte, mit dem Berg von Bildern vor sich, dem Stapel von Pappen, Filzstiften und Klebe. Dann war die Welt in Ordnung, dann konnte man sie lächeln sehen und Geschichten aufschreiben, für später, alles aufheben, damit es unvergänglich wurde, eine wärmende Erinnerung für die Tage, die kamen, für morgen. Luis war bei den meisten dieser Reisen dabei gewesen, und es machte ihm Spaß, die Fotos noch einmal zu sehen und die Texte zu lesen. Wie er auf der Fahrt in die Schweiz seine Schuhe aus dem Auto geschmissen hatte, einfach so, um die anderen zu ärgern. Wie sie in dem römischen Luxushotel gewohnt hatten, als Trost für die verregneten Tage auf dem Zeltplatz, und wie er und seine Brüder beim Zimmerservice einen ganzen Wagen voller Köstlichkeiten bestellt hatten und seine Mutter hinterher die Rechnung nicht bezahlen konnte. Wie sein Vater nachgekommen war, auf der Reise nach Griechenland, obwohl er doch hätte arbeiten müssen, und wie niemand von ihnen das vorher gewusst hatte, und wie seine Mutter dann anfing zu weinen, vor Freude, mitten in Athen.
    Als er den letzten Aktenordner durchgesehen und wieder zurückgestellt hatte, entdeckte er einen anderen, einen schlichten schwarzen: Familienrechtssachen stand darauf geschrieben. Luis nahm diesen Ordner heraus. Er wusste nicht, was er suchte, es war, als sei er von einer fremden Hand an diesem Abend, zu dieser Stunde in diesem Raum gelenkt worden und als wäre das der Augenblick, wo eine fremde Macht, die wir Schicksal nennen, entschieden hätte: Dies ist der Zeitpunkt der Wahrheit.
    Luis lümmelte sich auf dem Dhuri, der auf dem Parkettboden lag, den Aktenordner vor der Nase, öffnete ihn und blätterte in den Dokumenten. Im ersten Moment begriff er nicht, was er da las. Sein Name

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