Die Albertis: Roman (German Edition)
Sinne hatten sie auch Edward und Pavel eingeschärft, niemals darüber zu reden. Außer den Erwachsenen waren sie die einzigen, die dieses Familiengeheimnis teilten.
«Jetzt mach mir bitte keine Vorwürfe!», fauchte Anne. «Das ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann!» Sie schüttelte den Kopf. «Dass jetzt auch noch das passieren musste. Wie kommt er darauf, diesen Ordner ...?»
«Vielleicht hättest du ihn nicht so offen herumstehen lassen sollen.»
«Hab ich doch in unserer alten Wohnung auch! Ich würde noch nicht im Traum darauf kommen, dass er ...» Sie nahm den Ordner hoch, schlug ihn zu, und stellte ihn an seinen Platz zurück. «Was machen wir jetzt. O Gott!» Anne fuhr sich durch die Haare, ließ sich auf den Sessel vor dem Bücherregal fallen.
«Wir müssen die Polizei rufen!», meinte Paul.
«Ich sehe schon den Blick von diesem ... diesem Beamten, der denkt, er ist nur noch für die Sippe Alberti-Ross da, jedes Vierteljahr eine andere Geschichte.»
Paul wurde laut. «Hast du einen anderen Vorschlag?» Noch nie in all den Monaten hatten sie sich gestritten. Eine unerträgliche Spannung lag in der Luft. Anne hatte Angst, Paul war sauer. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er sah sie an. Dann kam er zu ihr, und seine Stimme wurde wieder weich. Er nahm sie in den Arm und sagte ein paar warme und freundliche und beruhigende Worte.
Er ging zum Schreibtisch, um die Polizei anzurufen. Gerade als er den Hörer abnehmen wollte, klingelte das Telefon. Er sah Anne an. Sie riss die Augen auf, und mit beiden Händen bedeutete sie ihm heftig, er solle abnehmen.
«Ross!»
Am anderen Ende der Leitung war Wolf; fast hätte er aufgelegt, als er die Stimme von Paul hörte, doch dann nahm er sich zusammen. «Paul, hier ist Wolf. Ich wollte euch sagen, dass Luis bei mir ist.»
Erleichtert atmete Paul durch: «Warte, hier ist Anne.» Sie war an den Schreibtisch getreten und er übergab ihr den Hörer. «Es ist Wolf. Luis ist bei ihm.»
Anne ließ Wolf erzählen. Dass Luis sich seinen Rucksack und etwas Geld geschnappt hatte, zum Bahnhof gelaufen war und den letzten Eilzug in Richtung Hamburg erwischt hatte. Dass er am Hauptbahnhof ein Taxi genommen und vor einer halben Stunde bei ihm aufgekreuzt war. Wolf berichtete weiter, dass er Luis, der vollkommen aufgelöst gewesen sei, alles gesagt habe: Von dem Mädchen, das damals, vor zehn Jahren, zu Paul in die Klinik gekommen war, in der er als Assistenzarzt arbeitete, und bei ihm ihr Kind entbunden hatte, um es sofort zur Adoption freizugeben. Luis wusste nun alles, von Anne und ihm, die sich noch ein Kind wünschten und keines mehr bekommen konnten, davon, wie Paul die Adoption vermittelt habe. Wolf hatte ihm aber auch erzählt, dass Luis, seiner Geschichte wegen, immer etwas Besonderes gewesen war, ihr Jüngster und ihr Nesthäkchen, dem sie Aufmerksamkeit und Liebe schenkten, vielleicht mehr noch als Edward und Pavel.
«Wie hat er es aufgenommen?», wollte Anne wissen.
«Na ja. Kannst du dir ja denken.»
«Soll ich mit ihm sprechen?»
«Nein.»
«Soll ich kommen?»
«Lass ihn erst mal schlafen. Morgen vielleicht.»
Jede Familie hat ihre Geheimnisse. Bei Paul war es der Selbstmord seines Vaters gewesen, von dem niemand etwas gewusst hatte außer ihm und seiner Mutter, bis er es Anne gebeichtet hatte. Geheimnisse sind ein unsichtbares Band, das zusammenhalten, aber auch abschnüren kann. Ein Geheimnis bedrückt oft jene, die es kennen, und grenzt die aus, die es nicht erfahren sollen. Es bildet Allianzen und Konstellationen, die, gäbe es das Geheimnis nicht, längst auseinander gebrochen wären. Oft wird es über Generationen getragen und überdauert Jahre und Jahrzehnte, oft ist es eine frische Wunde, von der man hofft, dass Verschwiegenheit sie schneller heilen lässt. Meist scheint die Wahrheit den Betroffenen schwerer zu ertragen zu sein als die Bürde des Geheimnisses. Man fürchtet sich vor der Offenlegung, vor neuen Verletzungen, vor Strafe und Ächtung. Anne hatte nie verschwiegen, nie verschweigen können, dass ihr Drittgeborener, dem sie den Namen Thole gegeben hatte, tot zur Welt gekommen war und sie danach nie wieder ein Kind kriegen konnte. Sie hatten Thole begraben, und immer wieder, wenn auch zunehmend seltener, war sie an sein Grab gegangen. Sie hatte immer davon geträumt, vier Söhne zu haben. Vier Söhne wie vier Himmelsrichtungen. Dafür standen die Namen. Edward für den Westen, Pavel für den Osten, Thole für den Norden. Wie glücklich
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