Die Albertis: Roman (German Edition)
Gedanken nicht zuließen.
«Mir wäre es echt lieb, wir würden nicht wieder so ein Palaver anfangen. Ich dachte, wir feiern heute meinen Geburtstag nach!», erklärte er.
Ebba sprang ihm bei: «Ja, das finde ich auch!»
Paul zog aus seiner Hosentasche ein kleines, längliches Päckchen. «Hör mal, Edward», begann er zögernd und drehte das Päckchen hin und her, während er es betrachtete, so als halte er einen unwiederbringlichen Schatz, den er nicht hergeben wollte. «Ich habe hier noch ein Geschenk für dich.» Er sah Anne an. «Du solltest es schon längst kriegen. Eigentlich zu deinem Abitur. Aber dann ... ist ja auch so viel passiert in den letzten Monaten, ich habe es vergessen.» An Anne und Ebba vorbei schob er es ihm hinüber. Bevor Edward es auspacken konnte, kam die Kellnerin und nahm die Bestellung entgegen.
«Endlich!», sagte Ebba. «Diese asiatische Gelassenheit geht mir ab. Ich habe zu dieser späten Stunde immer einen solchen Bärenhunger. Obwohl ich weiß, dass es ungesund ist.»
Edward stellte ihr seinen Teller hin. «Du kannst davon nehmen!»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich warte auf den gegrillten Fisch.»
Edward riss das Papier von dem Päckchen herunter. Darunter kam ein Karton zum Vorschein, dessen Deckel er vorsichtig mit einem Lächeln und einem Blick zu Paul abhob.
Paul erwiderte es. «Ich hoffe, damit ist unser kleiner Streit von neulich vergessen, Edward!»
Es war eine schöne goldene Herrenarmbanduhr. Sie war mindestens fünfzig Jahre alt, doch sie ging sekundengenau. Es war eine Patek Philippe. Edward machte große Augen und band sie sich um.
«Wow, ist die schön!», sagte Ebba.
«Sie ist noch von meinem Vater.»
«Und die schenkst du mir?»
«Du bist mein Patensohn. Betonung auf Sohn.»
Edward sprang von seinem Drehstuhl herunter. Die beiden umarmten sich.
Anne warf Ebba einen zufriedenen Blick zu. «Aber nicht verkaufen Eddi, hörst du?», sagte sie augenzwinkernd.
«Mama!», er setzte sich wieder und starrte auf die Uhr an seinem Arm.
«Und weil wir gerade hier so gemütlich beisammen sitzen ...», Anne hob ihr Glas. «Ebba ... Paul: Ich finde, es ist an der Zeit, dass ihr euch duzt!»
«Wurde auch Zeit!», meinte Ebba und stieß mit Paul an. Dann legten sie ihre Arme umeinander, tranken Brüderschaft und küssten sich. Während Ebba ihre Lippen auf Pauls Wange drückte, schloss sie kurz ihre Augen, öffnete sie dann und sah Edward an. Sie verharrte so, bis Paul einen Schritt zurücktrat. Edward war ein wenig verwirrt. Was war das denn für ein Blick gewesen?
«Sagt mal ...», fragte Ebba. «Was ist eigentlich aus der Sache ...» Sie sagte Sache, um es so undramatisch und beiläufig wie möglich klingen zu lassen, «... mit Pavel geworden?»
Anne lächelte. Gerade vor zwei Tagen war ein Brief von Dr. Kötter in der Post gewesen. Das Gericht hatte endlich einen Termin für Pavels Prozess anberaumt. Noch vor Jahresende sollte er stattfinden. Pavels Chancen standen nach Einschätzung des Rechtsanwalts nicht schlecht: Er würde wahrscheinlich mit einer Geldbuße, einem Jahr Führerscheinentzug und vielleicht der Verpflichtung, einige Zeit eine wohltätige Aufgabe zu übernehmen, davonkommen. Anne war glücklich über diese Wendung. Doch sie wusste, dass in Wahrheit, selbst wenn der Prozess hinter ihnen lag, für Pavel die Geschichte noch längst nicht abgeschlossen war. Er tat ihr Leid, weil er, obwohl er noch so jung war, für immer mit dieser Last leben musste. Nachts, wenn sie manchmal wach lag und über all das grübelte, was in den vergangenen Monaten passiert war – und es war nicht wenig, was ihr da durch den Kopf ging –, kam ihr jener Spruch in den Sinn, den ihr Vater ihr einmal in ihr Poesiealbum geschrieben hatte. Damals war sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen, und es gab eigentlich überhaupt keinen Grund dafür, dass er ausgerechnet diese Zeilen ausgewählt hatte: «Des Menschen Schuldbuch ist sein eigenes Gewissen. Darin wird keine Seite rausgestrichen, noch -gerissen.» Heute wusste Anne, dass das im Grund für jeden Menschen irgendwann einmal galt, auch für sie.
Das Essen kam. Anne und Paul aßen Tori Teriyaki, gegrilltes Huhn mit einer süßen Sojasaucenglasur. Ebba bekam ihren Lachs. Edward hatte sich für Rindfleisch und Gemüse in Hühnerbrühe entschieden, Shabu Shabu. Es wurde ein wunderbarer Abend, und kurz nach Mitternacht – sie waren die letzten Gäste, das Fließband längst abgestellt – mahnte Anne zum Aufbruch. Paul bezahlte.
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