Die Albertis: Roman (German Edition)
Lust hatte außer ihm, er machte Vorschläge für Reisen, zu denen es aber nie kam. Wolf war ein Heim-und-Herd-Mann, ein Stubenhocker, eine Haltung, die er an Pavel und besonders an Edward vererbt hatte. Ihr letzter gemeinsamer Urlaub lag fünf Jahre zurück. Seitdem hatte er seine Frau und seine Söhne in den Ferien meistens, wie er es nannte, mit dem Auto «vorausgeschickt», nach Italien, Spanien, Frankreich. Leider kam er nie nach.
Sie saßen allein in Pensionen, billigen Hotels, auf Campingplätzen. Anne wollte stets etwas unternehmen – Besichtigungen, Wanderungen, ihren Söhnen, mit dem Reiseführer in der Hand, fremde Kultur und Geschichte nahe bringen. Edward, Pavel und Luis hatten keine Lust dazu, sie vermissten ihren Vater. Die Jungs waren enttäuscht und ließen das an ihrer Mutter aus. Anne war wütend und versuchte, immer das Beste aus allem zu machen. Es waren frustrierende Erfahrungen, mit drei Söhnen, deren Interesse an Land und Leuten sich aufs Schlafen, Essen, Diskobesuche und der Eroberung von Mädchenherzen beschränkte, die Urlaubstage zu verbringen.
Im letzten Jahr hatte Anne alle drei kurzerhand in ein Feriencamp nach England geschickt. Sie war zu Hause geblieben, und hatte die Ruhe und die freie Zeit genossen. Leider wurde sie oft unterbrochen, um R-Gespräche entgegenzunehmen. R-Gespräche, die darin bestanden, den jaulenden Luis aufzubauen, oder Pavel, der es in ausgeprägter Weise verstand, darüber zu lamentieren, dass er als Auszubildender finanziell und zeitlich besonders benachteiligt war. Sie versprach, Geld zu schicken, ermahnte Edward, auf seine Brüder aufzupassen, und wünschte sich einmal mehr, völlig frei und unabhängig zu sein. Anne sehnte sich nach Urlaub. Urlaub, wie sie ihn gerne gemacht hätte. Umsorgt, verwöhnt, bildend, bereichernd. Davon erzählte sie Paul.
Es war Oktober. Fast drei Monate dauerte nun schon ihr Verhältnis. Sie trafen sich, wann immer es ging. Eine Pension, nicht weit von Annes Wohnung entfernt, wurde zu ihrem Liebesnest. Heimlich gingen sie essen, spazieren bei Wind und Wetter, ins Kino, letzte Reihe Mitte, einmal in die Oper, in «Tristan und Isolde», denn Anne liebte Wagner-Musik. «Eine Ruth-Berghaus-Inszenierung: ich war schon zweimal drin: phantastisch!», hatte Anne erklärt, und war ins Schwärmen geraten.
Wenn sie von Richard Wagner sprach, erinnerte sie sich sofort an ihre Großmutter. Sie hatte ihr, dem träumerischen, zarten, blassen Mädchen, Wagner und seine Musik nahe gebracht. Damals war Anne so alt gewesen wie heute Luis. Schlagartig kamen ihr Bilder in den Sinn. Wie ihre Großmutter, verzweifelt auf der Suche nach jemandem in der Familie, der sie begleiten würde, ihr eine Karte für die «Götterdämmerung» in der Hamburgischen Staatsoper geschenkt hatte, zusammen mit einem alten Foto des Komponisten, an einem Regentag, bei Butterkuchen und Friesentee mit Kluntjes, die so schön knisterten, wenn man den heißen Tee in die Tasse goss. Wie sie am Bremer Hauptbahnhof auf die Eisenbahn gewartet hatten, mittags um zwölf, weil die Aufführung schon um halb fünf begann. Beide trugen schon ihre Abendgarderobe. Anne in einem geblümten Plisseekleid und schwarzen Lackschühchen mit Riemen. Ihre Großmutter in einem bodenlangen schwarzen Lurexrock aus Samt, zu dem sie eine üppige weiße Rüschenbluse trug, und darüber einen traurigen Regenmantel. Um ihre frisch ondulierten Haare zu schützen, hatte sie ein Plastikkopftuch umgebunden. Ihre klitzekleinen Füße steckten in quietschenden Schnürstiefeln. Die Abendschuhe, ebenfalls aus schwarzem Lack, hatte sie in einem Schuhbeutel verwahrt, der in einer Einkaufstüte aus Plastik steckte. Wie die Leute im Zug guckten, als die runde, runzelige Frau mit dem süßen Kind im Abteil saß und die mitgebrachten Stullen aßen und Kaffee aus dem Deckel einer Thermoskanne tranken. Wie die Großmutter Geschichten erzählte, die ganze Fahrt über, von Siegfried und den Walküren, von einem Zwerg und einem Drachen, von Hagens Speer und einem Zaubertrank, und wie sich nachher alles auf der Bühne noch viel schöner und imposanter und aufregender darstellte als in den Erzählungen. Hojotoho! Hojotoho!
Danach waren sie auf der gegenüberliegenden Seite der Oper in ein italienisches Lokal gegangen, dessen Besonderheit darin bestand, dass man nicht an gewöhnlichen Tischen und auf gewöhnlichen Stühlen saß, sondern in Oldtimer klettern musste, in denen die Kellner ihnen Pizza servierten und Annes
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