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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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zu.
    Sie erbrach auf seinen entblößten Schoß. Angewidert schnellte er zurück, schaute fassungslos auf das Malheur, das nun auf den Boden tropfte.
    Der kurze Moment der Unaufmerksamkeit genügte. Sofort sprang sie auf und riss dabei einen gläsernen Kolben um, der neben ihr auf dem Tischchen stand. Sie ignorierte das Klirren, die kleinen Splitter, die über den Steinboden schossen und sich in ihre bloßen Füße bohrten, und eilte zur Tür. Den dunklen Korridor entlang, am kühlen Gemäuer tastend, hinaus auf den weiß bedeckten Weg. Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen, stob Schnee vom dichten Geäst der Bäume, ließ die roten Früchte der Heckenrose auf dürren Zweigen tanzen.
    Während sie den Pfad entlangstürzte, spürte sie, wie etwas an ihren nackten Beinen hinablief, etwas schien aus ihr herauszufließen, doch sie ignorierte es, rannte weiter ins Gehölz, dessen Tannen den Himmel fast verschluckten. Dichtes Astwerk schlug gegen ihren Körper, Zweige griffen nach ihrem Gesicht. Schließlich erreichte sie den Weg und überquerte die Brücke über die Saale.
    Von weitem hörte sie ein wütendes Brüllen. Sie blickte um sich und sah keine Verfolger, doch es würde nicht lange dauern, bis sie ihre Spur aufnahmen. Einen kurzen Augenblick blieb sie stehen, heftig atmend, mit stechender Brust, und rang um Luft. Die aufgerissenen |14| Füße brannten im Schnee, als triebe man tausend kleine Nadeln in ihr Fleisch. Es schien ihr unmöglich, noch einen Schritt zu gehen. Doch sie musste weiter, niemand würde ihr hier zu Hilfe kommen können. War das Stadttor schon verschlossen?
    Endlich gelangte sie zu den kleinen Gärten vor den Mauern der Stadt, in der Ferne sah sie die ersten Häuser. Sie überquerte den Mühlgraben, erreichte das offene Stadttor, lief am Hospital entlang zur Saalgasse. Eine Gruppe Studenten kam ihr entgegen, johlend und feixend, auf dem Weg zum nahe gelegenen Gasthaus. Einer hielt sie am Arm, doch sie riss sich los und lief weiter. Vorbei an den nachtgrauen Fassaden der Bürgerhäuser, hinter deren Fenstern die ersten Lichter entzündet wurden.
    Der Weg war glatt, sie rutschte aus, fiel auf das steinige Pflaster und erhob sich strauchelnd. Dabei blickte sie zurück und sah, dass er ihr nun folgte und sich mit schnellen Schritten näherte. Dann war er bei ihr und riss sie herum. Sein Keuchen vermischte sich mit ihrem. »Mit Leib und Leben, Gut und Blut!«, zischte er und stieß warme Atemwölkchen in ihr Gesicht. »Vergiss das nie, hörst du? Niemals!« Seine Finger krallten sich schmerzhaft in ihren Nacken. Sie nickte. Er bohrte die Finger tiefer, bis der Schmerz in kleinen Blitzen durch ihren Rücken fuhr. Dann, kurz bevor ihre Beine zu versagen drohten, löste er den Griff und ließ sie stehen.

|15| I. TEIL

DAS DUNKEL
    In Jena ist es Mode so:
Da kann der Bruder Studio
Bei seinem eifrigen Studieren
Zugleich ein freies Leben führen.
Kommt nun ein Jenscher Renommist
Der Galle zeigt und Eisen frißt
So kann sein hohlgeschliffner Degen
Die halbe Welt zusammenfegen.
     
    Burschenfreiheit, altdeutsches Liedgut, Jena
1763

|17| 1
JENA
15. BIS 16. SEPTEMBER 1780
    An jenem schwülwarmen Septembermorgen, an dem das Unglück seinen Anfang nahm, erwachte Christoph Wilhelm Hufeland mit einem hämmernden Kopfschmerz. Noch während er sich aufsetzte und in das gleißende Sonnenlicht blinzelte, begriff er, dass er verschlafen hatte.
    Rasch sprang er auf, taumelte kurz, fing sich wieder und stürzte zum Waschtisch. Mit geschlossenen Augen beugte er sich über die Schüssel und goss unerträglich warmes Wasser aus der bereitstehenden Kanne über seinen Kopf. Dann betrachtete er sich im kleinen Spiegel. Tropfen rannen über seine hohe Stirn, die gefällig gebogene Nase hinab, bis zu den herzförmig geschwungenen Lippen.
    Das war also aus ihm geworden. Aus dem Sohn des angesehenen Leibarztes zu Weimar, hergeschickt, um nach dem Studium der Medizin die ehrwürdige Familientradition fortzuführen. Es hatte nur zwei Wochen gebraucht, um aus ihm einen jener Burschen zu machen, die sich in Gasthäusern herumtrieben und ihr Studiengeld versoffen. Ihm wurde übel.
    Es war das letzte Mal, schwor er sich. Ab jetzt würde er sich wieder gewissenhaft seinen Studien widmen.
    Hastig trocknete er sein Gesicht, band das dunkle Haar zu einem Zopf, stieg in die gelbe Hose und zog die Weste über. Es wäre schon die dritte Vorlesung von Professor Loder, die er verpasste, und diesmal würde er gewiss Meldung an den Vater

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