Die Alchemie der Naehe
ausgerechnet jetzt, wo sie wieder zusammengefunden haben.« Gern hättest du noch hinzugefügt, dass man seine Sichtweise schildern kann und deshalb noch lange nicht wahllos auf die eigene Mutter losgehen muss. Aber du verkniffst dir diese Bemerkung und seufztest nur. Schweigen. Sie machte keinerlei Anstalten, das Thema ein weiteres Mal aufzugreifen, und wenn du sie um eine Erklärung gebeten hättest, hättest du ohnehin keine Antwort bekommen.
Wegen der beklemmenden Atmosphäre an diesem Abend und des aufgeregten Gemurmels aus dem Elternschlafzimmer, wo wild diskutiert wurde, warst du zutiefst erschöpft. Du schlosst kurz die Augen, glittst jedoch dann in den wunderbaren Dämmerzustand hinüber, der von ihrer Körperwärme begünstigt wurde, und überlieÃt dich dem Schlaf. Noch konntest du ja nicht ahnen, dass Selvaggia sich am nächsten Morgen nicht mal die Mühe machen würde, in ihr Zimmer zurückzukehren, bevor euch jemand entdeckte.
Und so wurdet ihr am nächsten Tag pünktlich davon geweckt, dass die Rollläden hochgezogen wurden, Licht hereinströmte â und eure Mutter schwer entsetzt war. Du risst die Augen auf, ohne zu begreifen, was eigentlich los war. Bis du die vertraute Gestalt entdecktest, der du sogar noch einen bengalischen Tiger vorgezogen hättest. Eure Mutter stand direkt vor deinem Bett und starrte sowohl dich als auch Selvaggia feindselig an, die sie gar nicht zu beachten schien.
»Darf ich fragen, was in euch gefahren ist?«, schrie sie mehr oder weniger entrüstet mit hochrotem Kopf. Selvaggia blieb seelenruhig liegen, ohne ein Wort zu sagen, während du versuchtest, deine grauen Zellen auf Hochtouren zu bringen und dir eine Ausrede auszudenken. Zum Beispiel die, dass deine Schwester einen furchtbaren Albtraum oder hysterischen Anfall gehabt hatte. Doch anscheinend brachtest du nichts heraus, was deiner deutlichen Verlegenheit nicht ohnehin zu entnehmen war. »Hör zu«, sagtest du. »Das mit gestern hat ihr so leidgetan, dass â«
Leider musstest du innehalten, da deine Mutter schon jetzt völlig auÃer sich war. So hattest du sie noch nie erlebt. Doch Selvaggia blieb seelenruhig unter der Decke liegen, als ginge sie das Ganze nicht das Geringste an.
»Keine Ausreden, Giovanni! Ich will, dass so etwas nie mehr vorkommt, verstanden ?«, kreischte sie wild gestikulierend.
»Aber Mama, es ist nicht so, wie es â¦Â«
»Halt den Mund!«, schrie sie, und du verstummtest.
»Gut«, sagte Selvaggia. »Und jetzt verrat uns bitte, was du hier zu suchen hast, und lass uns in Frieden.« Mit dieser wie aus der Pistole geschossenen Unverschämtheit vertauschte sie die Rollen von Angegriffenen und Angreifern auf einen Schlag.
Antonella kochte vor Wut. Sie war bestimmt keine Heilige, aber allein dass sie es jahrelang mit Selvaggia ausgehalten hatte, war eine Leistung. Nicht einmal du konntest ihr manchmal folgen, und dass deine Mutter die Kraft hatte, sie wenigstens anzuschreien, war durchaus beeindruckend. Du selbst hattest nämlich keine groÃe Lust mehr, Selvaggia Vorhaltungen zu machen, da sie sich für die Motive anderer ohnehin nicht interessierte.
»Was ich hier zu suchen habe? Dasselbe möchte ich gern von dir wissen. Wer hat dir eigentlich erlaubt, dich ins Zimmer deines Bruders zu schleichen?«
»Na ja, ich«, mischtest du dich ein und gingst damit ebenfalls auf Konfrontationskurs. Eure Mutter verstummte und versuchte zu begreifen, was mit ihren Kindern los war, während ihr Mund sich missbilligend verzog.
»Los, steht auf und macht euch für die Schule fertig!«, befahl sie und wartete, bis ihr euch in Bewegung setztet.
»Gleich«, sagte deine Schwester gähnend, woraufhin du ihr verschwörerisch zulächeltest.
»Nicht gleich, sondern jetzt! Sofort!«
»Ich habe gleich gesagt«, beharrte Selvaggia, so als sei ihr jede Form von Gehorsam fremd â auch wenn das bedeutete, zu einer Woche Hausarrest bei Wasser und Brot verurteilt zu werden. Deine Mutter machte einen Satz auf sie zu, sie hatte völlig die Beherrschung verloren. In ihren Augen loderte nackte Wut, die sie fast explodieren, ja handgreiflich werden lieÃ. Tatsächlich beugte sie sich vor und packte Selvaggias rechten Arm, versuchte sie aus dem Bett zu zerren. Du reagiertest sofort. Jeder, der sich an Selvaggia vergriff â sei es nun eure Mutter, euer
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