Die Alchemie der Naehe
erwarten hattest, wobei dich das dumme Gefühl beschlich, als Urheber dieses Skandals zu gelten. Kaum wäre Selvaggia ausgestiegen, würde dir diese peinliche und hässliche Auseinandersetzung unmittelbar bevorstehen.
Als Selvaggias Schule in Sichtweite kam, musstest du dich zwingen, dieses Gedankenkarussell anzuhalten. Wie immer brachtest du deine Schwester zum Klassenzimmer, trugst ihren Rucksack und halfst ihr beim Treppensteigen. Ihr wechseltet kein einziges Wort, sondern saht euch nur kurz an, nachdem sich eure Blicke zufällig gekreuzt hatten. Dann bliebt ihr vor der Tür des Klassenzimmers stehen, und wie jeden Tag bekamen ihre Klassenkameradinnen mit, wie ihr euch zum letzten Mal an diesem Vormittag küsstet, bevor ihr euch verabschiedet. Deinen zögerlichen Schritten war anzumerken, dass du nicht recht wusstest, ob du Selvaggia allein lassen oder ihr noch eine Minute zu zweit abtrotzen solltest.
Kurz bliebst du im Schatten des halb offenen Tors stehen und warfst einen Blick auf den Mini eurer Mutter. Während immer mehr Menschen in das Gebäude strömten und dich Schülerinnen im Vorbeigehen neugierig musterten, sahst du, wie sie sich auf dem Fahrersitz zurücklehnte und sich seufzend durchs Haar fuhr. So als wollte sie den bösen Verdacht verscheuchen, der sich mittlerweile in ihrem dir so fremden Herzen eingenistet hatte.
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Du stiegst in den Mini und wolltest schnellstmöglich zur Schule, um die bevorstehende Auseinandersetzung so kurz wie möglich zu halten. Doch wie es der Zufall wollte, war der Verkehr an diesem Vormittag dichter als sonst und zwang deine Mutter, so nervtötend langsam zu fahren, dass es förmlich zu einem Gespräch einlud. Diese Stadt kann mich mal, hättest du am liebsten geschrien.
Als ihr an einer rein zufällig roten Ampel hieltet, ergriff sie als Erste das Wort. Besser gesagt, versuchte sie es mit Halbsätzen wie »Ehrlich gesagt, hätte ich schon erwartet â¦Â«, »Eigentlich hatte ich gehofft â¦Â«, um dann zu verstummen und die Worte hinunterzuschlucken.
Und weil du die Karten nicht als Erster auf den Tisch legen wolltest, wartetest du auf das kommende Verhör.
»Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass ihr unglücklich seid, Giovanni. Aber da scheine ich mich getäuscht zu haben«, sagte sie mit einer leicht zitternden Stimme und einem melancholischen Lächeln, das in Wirklichkeit eine tieftraurige Grimasse war.
Doch auch deine Worte, du weiÃt es, würden vor lauter Ver legenheit und Bedauern zittrig klingen, wenn du es denn wagen würdest, sie auszusprechen. Du hülltest dich in Schweigen, wusstest nicht mal mehr, was du denken solltest.
»Hast du mir denn gar nichts zu sagen, Giovanni?«, drang deine Mutter in dich, wandte dir kurz ihr schönes Gesicht zu und schaute gleich wieder zur Ampel hinüber.
»Selvaggia macht gerade eine schwere Zeit durch. Da ist es normal, dass sie manchmal ausrastet«, sagtest du ausweichend: Du hieltst es kaum aus, mit dieser fast Fremden im Auto zu sitzen. Bist du wirklich meine Mutter, dachtest du manchmal und warst dir selbst fremd dabei. Du nahmst keinerlei Muttergefühle an ihr wahr, spürtest keinerlei Mutter-Kind-Bindung. Nur der Umstand, dass du »Mama« zu ihr sagtest, hielt dich anders als Selvaggia davon ab, ihr wehzutun. Wie oft hattest du dir als Kind den Kopf darüber zerbrochen, warum sie Selvaggia nach Genua mitgenommen hatte und dich nicht! Wie oft hattest du dir vorgenommen, deinen Vater zu fragen, wie es zu dieser Trennung gekommen war. Aber mit dem Notar dar über zu reden? Vergiss es! Besser, man rührte nicht daran. Bis dann eines schönen Tages â du warst damals neun â ausgerechnet der alte Bruno, der Vater deines Vaters, durchblicken lieÃ, dass man alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, dich, den Sohn, in Verona zu behalten. Dein Vater hatte es so gewollt, um jeden Preis. Und der Richter, ein guter Freund deines GroÃvaters, hatte es offensichtlich sanktioniert.
Deine Mutter begann das Verhör mit einem Seufzer: »Aber etwas Wahres muss doch an dem dran sein, was Selvaggia gestern gesagt hat.«
»Man sagt viel, wenn der Tag lang ist, auch verletzende Dinge, die so ernst wieder nicht gemeint sind. Ehrlich ge sagt, würde ich ihren Wutausbruch nicht überbewerten, Mama. Sie hat sich wahnsinnig aufgeführt und leidet darunter, nicht ganz unabhängig zu
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