Die Alchemie der Naehe
Vater oder ein Fremder â, bekam es mit dir zu tun. Im Nu warst du aufgesprungen und schlugst die Hand deiner Mutter von Selvaggias Arm. Du stieÃt sie fort, bautest dich so vor deiner Schwester auf, dass deine Mutter es kein zweites Mal wagen würde, sie anzufassen.
»Lass sie in Ruhe. Rühr sie nicht an!«, zischtest du.
Deine Mutter keuchte: wegen der körperlichen Anstrengung, aber auch vor Verblüffung. Sie massierte sich die schmerzende Hand und sah dich nur verständnislos an, als würde sie euch gar nicht wiedererkennen. Kurz glaubtest du, Tränen in ihren Wimpern zu sehen â doch das war bestimmt bloà Einbildung. Trotzdem lieà sich nicht leugnen, dass diese Frau litt.
»Zieht euch an. Ich bringe euch zur Schule«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Gleich darauf verschwand sie ins Erdgeschoss. Deine Schwester und du rührtet euch nicht von der Stelle. Sie saà auf dem Bett, und du standst mit verschränkten Armen mitten im Zimmer â völlig verstört so wie sie vermutlich auch. »Danke, dass du mich verteidigt hast«, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. Du schwiegst. Du warst nicht wütend auf sie und auch nicht enttäuscht von ihr. Du wusstest nur nicht, wie du reagieren solltest. Du brauchtest Zeit zum Nachdenken. Also zogt ihr euch wortlos an, eine unüberwindbare Mauer des Schwei gens zwischen euch, während du ihr halfst, in ihre Hose zu schlüpfen, und sie dich im Bad kämmte. Noch während sie dir die Haare entwirrte, trafen sich eure Blicke im Spiegel: Sie stand direkt hinter dir, sodass du den ähnlichen Schwung eurer Brauen, die Form eurer Augen, eurer Wangenknochen bewundern konntest. Ob zwei, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, wohl gleichzeitig dasselbe denken können, fragtest du dich und mustertest ihre Züge, erkanntest sie in deinen wieder. Vielleicht dachte sie tatsächlich dasselbe wie du, nämlich dass das eine schwierige Phase war, dass Ãrger auf euch wartete, dass ihr mal wieder in dieser skurrilen, trostlosen Realität eures Lebens gefangen wart. Vielleicht dachte sie ebenfalls, dass ihr sehr brutal zu eurer Mutter gewesen wart, dass ihr sie verletzt hattet und leiden lieÃt. Deshalb fragtest du, ob sie das auch dachte. Doch sie sagte, nein, das denke sie nicht, und noch während sie die Bürste zielstrebig auf die Badezimmerkonsole zurücklegte: »Mir geht das alles am Arsch vorbei.« Das waren die einzigen Worte, die sie verlor, bevor sie ins Erdgeschoss ging und die Krücken laut hinter sich herschleifte.
Dass eure Mutter euch mit dem Auto zur Schule brachte, obwohl ihr viel lieber den Bus genommen hättet; dass sie heute Morgen Zeit dafür hatte, obwohl sie seit zwei Wochen behauptete, keine zu haben â weckte das keinen bösen Verdacht bei dir? Sahst du denn nicht, wie sie euch über den Rückspiegel beobachtete, während ihr hinten saÃt und Selvaggia sich an dich schmiegte, als gäbe es die Fahrerin, die diese heikle Situation mitbekam, überhaupt nicht?
Oh, nichts von alledem entging dir, das weiÃt du. Es war euch bloà egal, dass eure Mutter sah, wie ihr euch einen Kuss auf die Wange gabt und euch etwas zuflüstertet. Du wusstest ganz genau, dass sie euch beobachtete und auch mit welch zwiespältigen Gefühlen, weil sie sich keinen rechten Reim auf eure Beziehung machen konnte â denn daran zweifeltest du keine Sekunde. Es machte sie nervös zu sehen, dass ihr euch näher standet als erlaubt, dass ihr euch anlächeltet und verschwörerische Blicke tauschtet. Bestimmt stellte sich ihr dabei jedes Nackenhaar einzeln auf, obwohl sie immer noch weit davon entfernt war zu begreifen, was wirklich zwischen euch vorging.
Als du aus dem Fenster sahst, fiel dir dieses rührende Pärchen auf, das mit geschulterten Rucksäcken händchenhaltend zur Schule ging. Genauso hättet ihr auch sein müssen: zwei junge Leute, die zur Schule gehen, sich alles anvertrauen, Zärtlichkeiten austauschen. Zwei junge Leute, die nichts als Frieden und Harmonie ausstrahlen. Es war einfach schön, sie anzusehen, und noch schöner war es, sich ihr Leben und die Leidenschaft vorzustellen, die sie miteinander verband. War es nicht einfach furchtbar zu wissen, dass euch genau das verwehrt war?
Denn eines war dir sonnenklar, dass du nämlich eine höchst unangenehme Auseinandersetzung zu
Weitere Kostenlose Bücher