Die Alchemie der Naehe
Kopf. Sie sah erst zu eurem Vater und dann zu dir hinüber: »Giovanni braucht gar nicht erst so zu tun, als könnte er kein Wässerchen trüben: SchlieÃlich ist er Mephisto höchstpersönlich!«
»Aber natürlich«, sagtest du lachend. »Ich bin Mephisto, der dich ins Verderben stürzt! Stell dir vor, Selvaggia: Nur weil wir einen Nachmittag zusammen verbracht haben, müssen wir in der Hölle schmoren!«
Dein Vater lachte leise, Selvaggia dagegen aus vollem Hals. Und das machte deine Mutter erst recht wütend â weiÃt du noch?
»Und du lässt zu, dass er solchen Einfluss auf dich hat?«, sagte eure Mutter mit hochrotem Gesicht zu Selvaggia.
»Na hör mal, vielleicht bin ich ja gar nicht diejenige, die beeinflusst wird«, erwiderte deine Schwester. »Vielleicht hatte ja keiner von uns nach den jüngsten Ereignissen groÃe Lust zu lernen. Stell dich doch nicht so an! Die Schule hat gerade erst begonnen. Wir haben genug Zeit, den Stoff nachzuholen. AuÃerdem habe ich noch keine schlechte Note geschrieben.«
»Im Ernst, Mama, das war bloà ironisch gemeint«, entschuldigtest du dich kleinlaut.
»Es geht nicht darum, ob ihr eine schlechte Note geschrieben habt oder nicht«, erwiderte eure Mutter. »Sondern darum, dass ihr ein bisschen Engagement zeigt. Es geht schlieÃlich um eure Zukunft.«
»Genau«, sagtest du und schenktest dir seelenruhig Mineralwasser ein. »Und vielleicht dürfen wir die so gestalten, wie wir es für richtig halten.«
»Ich sehe ja, wie du sie gestaltest«, gab eure Mutter zurück.
Du wusstest nicht, was du darauf sagen solltest, aber Selvaggia eilte dir zur Hilfe.
»Hör auf, ihn so anzugreifen! Bis März haben wir alles locker wieder aufgeholt. Das ist doch keine Tragödie«, sagte Selvaggia, um die Sache ein für alle Mal zu beenden.
Da platzte eurer Mutter endgültig der Kragen: »Selvaggia, bitte nicht in diesem Ton!«
Daraufhin schnitt Selvaggia das schwierigste Thema ihres bisherigen Lebens an: »Ausgerechnet du willst mir erzählen, dass ich ein bisschen Engagement zeigen soll? Na, dann frag dich doch mal, ob du engagiert bei der Sache warst: Giovanni hast du als Kleinkind mehr oder weniger im Stich gelassen, und ich wurde mir selbst überlassen. Auch in Genua hast du mich nie nach meinen Freunden gefragt, geschweige denn, ob ich etwas brauche, das ausnahmsweise kein Rock oder Mantel ist. Nie hast du mich gefragt, ob ich umarmt werden möchte oder einen Rat brauche. Nie hast du ein offenes Ohr für mich gehabt, wenn ich traurig war. Und nie warst du da, wenn ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen und geweint habe.«
Du, Giovanni, sahst, wie deine Mutter aus allen Wolken fiel.
Doch Selvaggia war noch nicht fertig. »Denn du warst ja viel zu sehr mit immer neuen Männern beschäftigt. Damit du mit deinem neuesten Liebhaber zusammen sein konntest, hast du mich links liegen lassen. Du hattest keine Ahnung, mit wem ich mich rumtreibe, was ich mache, und willst mir jetzt was von Engagement erzählen? Kehr erst mal vor deiner eigenen Tür, bevor du den Mund aufmachst! Dann wirst du feststellen, was für eine katastrophale Mutter du warst.«
All das sagte sie, ohne laut, zornig zu werden, so als wäre das ein ganz normales Gespräch. Eisige Stille. Ungläubige Blicke. Immer wieder sahst du zwischen Selvaggia und deiner Mutter hin und her. Deine Schwester lieà ihr Essen stehen und griff nach den Krücken â sie war fest entschlossen, den Tisch zu verlassen. Sie wirkte so erleichtert, als hätte sie sich endlich mal was von der Seele geredet. Wer weiÃ, wie lange diese Vorwürfe schon in ihr gebrodelt hatten. Während ihr euch wortlos anstarrtet, erhob sie sich gruÃlos und ging in ihr Zimmer hin auf. Der Lärm ihrer Krücken wurde leiser und verstummte erst, nachdem ihre Zimmertür zugeknallt worden war.
Dein Vater und du saht euch schockiert an und konzentriertet euch dann auf eure Mutter. Sie sah wirklich fertig aus und starrte sprachlos auf den leeren Stuhl, auf dem noch vor Kurzem Selvaggia gesessen hatte. Nachdem sie Selvaggias Vorwürfe ungeschminkt abbekommen hatte, tat sie dir richtig leid. Irgendwann schob sie ihren Teller von sich, lehnte sich zurück und begann leise zu weinen, bevor sie unter dem Vorwand abzudecken verschwand, damit niemand sah, wie sehr sie schluchzte. Dein Vater warf
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