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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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dir einen vielsagenden Blick zu, also standst du auf und ließt deine Eltern allein.
    Nachdenklich gingst du nach oben, aber nicht zu Selvaggia. Du wusstest, dass ihre Wut erst einmal verrauchen musste, und bevor du ihr zuhörtest, wolltest du dir erst selbst eine Meinung bilden. Nur weil du sie liebtest, würdest du nicht für sie Partei ergreifen. Aber dass eure Mutter sie viel zu lange vernachlässigt hatte, war nun mal nicht zu leugnen. Das hattest du in den letzten Monaten, die du mit ihr unter einem Dach lebtest, selbst miterleben können: Nie war sie zu Hause: Zum einen wegen ihres Jobs, zum anderen weil sie in jeder freien Minute mit eurem Vater ausging. Abends sagte sie nur kurz Hallo und fragte, ob ihr einen schönen Tag gehabt hättet. Aufrichtiges Interesse drückte sich darin nicht aus. Sie lebte ihr Leben und ihr das eure. Auch dass sie sich nicht wirklich um euch kümmerte, stimmte: Sie war noch nie eine von den Müttern gewesen, die zuhörte und gute Ratschläge gaben. Sie war einfach bloß die Frau, die mit euch zusammenlebte und euch geboren hatte. Trotzdem schient ihr ihr fremd zu sein, so als würde sie sich gar nicht wirklich für euch interessieren. Dass sie so gut wie keinen Mutterinstinkt besaß, konntest du ihr schlecht vorwerfen. Aber dass ihr ihr eigenes Vergnügen wichtiger war als ihre familiären Verpflichtungen, sehr wohl.
    Trotzdem hätte Selvaggia ihr nicht direkt ins Gesicht sagen müssen, was sie von ihr hielt. Stattdessen hätte sie ihr gewisse Dinge schonend beibringen können: zum Beispiel dass sie mit ihr reden und zärtliche Gesten tauschen wollte. Eines stand jedenfalls fest: Dieser unerwartete Ausbruch von schweren Vorwürfen würde noch Konsequenzen haben.
    Gegen zehn Uhr abends klopfte es an deiner Tür.
    Â»Ja?«, fragtest du und legtest dein Chemiebuch beiseite. Du hattest eigentlich jemand anderen erwartet, den pater familias zum Beispiel, doch stattdessen war es deine bessere Hälfte. Mit äußerster Vorsicht schloss sie lautlos die Tür, kam zu dir und setzte sich auf die Bettkante. Du nahmst sie in den Arm, und sie duftete frisch geduscht, war bereits fertig für die Nacht. Da ludst du sie ein, zu dir unter die Decke zu schlüpfen. Anfangs wechseltet ihr kein Wort, sondern umarmtet euch bloß und saht fern.
    Â»Willst du heute Nacht hier schlafen?«, fragtest du irgendwann. Sie nickte, also rücktet ihr etwas enger zusammen, um Platz in deinem schmalen Bett zu finden.
    Du hattest dir angewöhnt, Selvaggia gegen halb elf in ihrem Zimmer zu besuchen, wenn sie schon im Bett lag. Normalerweise schlüpftest du dann zu ihr unter die Decke, woraufhin ihr euch ohne Umschweife umarmtet und gute Gespräche führtet – umgeben von der friedlichen Aura, die sich nachts auf alle Liebenden herabsenkt. Noch während ihr euch unterhieltet, schlieft ihr ein. Der Wecker klingelte um Viertel vor sieben, damit du noch rechtzeitig in dein Zimmer zurückkehren konntest und nicht bei Selvaggia im Bett erwischt wurdest. Eine Angewohnheit, die ihr seit ihrem Wettkampfunfall angenommen hattet. Doch an diesem Abend tauschtet ihr das Zimmer, wobei klar war, dass sie noch vor Viertel vor sieben wieder zurück sein musste.
    Â»Du warst ganz schön hart zu Mama«, sagtest du gelassen. Selvaggia stöhnte nur leise auf.
    Â»Sie hatte es verdient! Hoffentlich kapiert sie jetzt, was ich all die Jahre durchgemacht habe!«
    Â»Du hättest es ihr auch taktvoller beibringen können. Hast du nicht gemerkt, wie fertig sie ist?«
    Â»Umso schlimmer! Ich habe ihr bloß die Wahrheit gesagt – meine Wahrheit. Wenn sie mir ihre Wahrheit verkünden will, wird man das einer Polizistin kaum verbieten können.«
    Â»Ja. Aber musstest du ihr gleich an den Kopf werfen, dass sie als Mutter völlig versagt hat?«
    Â»Jetzt misch dich nicht auch noch ein! Wie es ihr damit geht, interessiert mich nicht. Begreifst du denn immer noch nicht, Johnny, dass unsere einzige Rettung darin besteht, abzuhauen und diese gestörten Kommissare und Notare ein für alle Mal hinter uns zu lassen?«
    Du klingst ja wie Hitlers Schwester, hättest du am liebsten gesagt, beließt es jedoch bei »Und wohin sollen wir deiner Meinung nach gehen?«
    Â»Nach Madagaskar. Nach Kuba. Überall dorthin, wo es nicht so viele Polizisten in der Familie gibt.«
    Â»Das sind bloß unsere Eltern! Und das

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