Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
wir was?«, fragte sie verzweifelt.
»Haben Sie noch jemanden gesehen?«
»Im Schrank?«
»Im Palast.«
»Hunderte! Deshalb mussten wir uns verstecken!«
»Ja, natürlich …«
»Es war schrecklich! Dieser enge Raum! Begreifen Sie nicht!«
»Ich verstehe … mein armes Ding … aber … hat Chang … ich meine, haben Sie …«
Sein Blick wanderte zu ihrem Busen, und sie ertappte ihn dabei, bevor er wegblicken konnte. Zu Svensons Betroffenheit veränderte sich ihr Gesichtsausdruck augenblicklich. In ihrer Gemütserregung zeigte sie zuerst unverblümtes Begehren und zog gleich darauf eine verächtliche Grimasse, die ihn tief erschütterte. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Ihre hochgezogenen Schultern bebten.
Er spürte, wie ihm die kalte Einsamkeit wieder in die Knochen kroch. Das Mädchen war ein Häuflein Elend.
»Meine liebe Celeste. Reißen Sie sich zusammen. Sagen Sie nichts mehr. Wir werden die Contessa finden. Wir werden den Comte finden.«
»Sie halten es alle für einen absoluten Witz!«
»An dem Gelächter werden sie ersticken. Verlieren Sie nicht den Mut und trocknen Sie ihre Tränen. Es ist keine Schande. Wir müssen Kardinal Chang zurückholen.«
Als ihm die Karte weggenommen wurde, fluchte Chang und rieb sich Augen und Stirn. Svenson hörte eine unbekannte Rauheit in Changs Stimme und bemerkte auch seine blassen Lippen und die glänzende Flüssigkeit an seinen Nasenlöchern.
»Sind Sie krank? Ist es die Karte?«
»Es ist gar nichts.«
»Ich sollte Sie untersuchen.«
»Wir haben schon genug vom Abend verschwendet.«
»Sie haben die Wunde nicht gesehen – wirklich, in diesem Fall hätten Sie …«
» Nein .« Chang setzte die dunkle Brille wieder auf. »Es geht mir bestens. Jedenfalls im Vergleich zu Ihnen beiden.«
Trotz Changs schlechter Laune war Svenson froh um die Ablenkung. Miss Temple hatte sich alle Mühe gegeben, die Spuren aus dem Gesicht zu wischen, wobei sie sich abgewandt hatte, als wollte sie den Wandbehang betrachten.
»Die oberen Stockwerke wimmeln nur so von Leuten«, sagte Chang. »Wir dürfen nicht glauben, dass wir uns unbemerkt dort aufhalten können. Dass noch niemand herabgekommen ist und uns gefunden hat, ist nur ihrer Furcht vor Ansteckung zu verdanken.«
»Was für eine Ansteckung?«, fragte Svenson.
»Die Krankheit! Die Hinterlassenschaft der Glasfrau!«
»Aber wir sind ziemlich weit weg von Stäelmaere House, unter dem Palast – keine zwanzig Meter vom Fluss entfernt.«
Chang zeigte durch den Bogen. »In zwanzig Metern Entfernung sind die Keller des Herzogs.«
»Aber … aber die Contessa hat mir gesagt …«
Chang schnaubte.
»Warum sollte sie lügen?«
»Um ihre eigene Flucht zu erleichtern. Oder Ihre Gefangennahme zu bewirken.«
»Aber Sie beide sind tiefer in den Palast hineingeflohen«, sagte Svenson. »Warum sind Sie zurückgekommen?«
»Wir wussten keinen anderen Weg hinaus«, sagte Miss Temple. »Und wir hatten gehofft, andere zu finden, die sich ebenfalls verstecken – wie wir auch.«
»Dann sind wir vielleicht in der Nähe von Phelps und Cunsher. Wenn sie gefangen sind, müssen wir sie befreien.«
Chang schnaubte ungeduldig. »Das wäre der Gipfel der Torheit. Sie zu suchen bedeutet, unser eigenes Leben zu riskieren und sämtliche Hoffnung fahren zu lassen, Vandaariff und die Contessa aufzuhalten. Phelps und Cunsher wissen das.«
Svenson bemühte sich, seinen Ärger darüber hinunterzuschlucken, dass ihn sein anständiges Verhalten in Changs Augen zu einem Dummkopf machte.
»Nun, wenn wir also Vandaariff suchen …«
»Vandaariff ist weg«, spottete Chang. »Er kam nur zum Feuerwerk auf dem Platz und zum Vergnügen an der Erniedrigung seiner Gastgeber.«
»Wo finden wir ihn also?«
»Harschmort. Raaxfall. In Stropping Station, wo er eine weitere Explosion auslöst. Irgendwo.« Chang wies mit dem Kinn auf Miss Temple. »Fragen Sie sie .«
»Ich habe keine Ahnung.« Miss Temple sprach leise, und betroffen wurde sich Svenson bewusst, dass sie gerade die vergifteten Erinnerungen des Comte konsultiert hatte, bestimmt zum Ausgleich der Schwäche, die sie Augenblicke zuvor gezeigt hatte. Er hatte sie gebeten tapfer zu sein, doch Selbstkasteiung war nicht das Ziel gewesen.
Angesichts Changs Unruhe und Miss Temples Verzweiflung spürte der Doktor, dass er nun die weitere Vorgehensweise bestimmen musste. Aber nicht einmal die einfachsten Fakten ergaben einen Sinn. Hatte die Contessa ihn zurückgelassen, damit man ihn schnappte?
Weitere Kostenlose Bücher