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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Töchter. Waren die Kinder männlich, mußten sie sterben, und das Experiment begann von neuem. Manchmal war es ein Glücksspiel. Ich wurde wie Morgantus, nachdem ich einmal die Möglichkeiten erkannt hatte. Ich zeugte, ich tötete. Dutzende Male, in jeder Generation von neuem. Und ich wurde unsterblich. So wie Morgantus. So wie Nestor.«
    »Bis Sie die Kette durchbrachen …«
    »Mit Charlotte, ja. Sylvette war die erste meiner Töchter, die nicht im Inzest entstand, deren Mutter nicht zugleich meine Tochter war.
    Ich will ehrlich sein, Aura, und deiner Schwester habe ich es ohnehin längst gestanden: Ich verführte Charlotte, um Nestor zu demütigen. Jahrhundertelang haben Morgantus und ich nach ihm gesucht, und als wir ihn endlich fanden, da war er das Oberhaupt einer Familie, der Herr eines Schlosses – früher hätte man gesagt: ein Edelmann. Wir wurden krank vor Neid. Wir selbst waren Mönche gewesen, Tempelritter, wenn auch vom Glauben abgefallen. Wir hatten angenommen, Taten, wie wir sie begingen, seien nur unter dem Mantel des Ordens möglich, vollbracht in einsamen Klöstern und Abteien, fern vom Pulsschlag der Welt in völliger Geheimhaltung, Armut und Gelehrsamkeit. Wir hatten unsere Töchter, aber nie Familien, nie Geborgenheit, nie Harmonie. Und dann sahen wir Nestor wieder, nach all der Zeit, und sein Lebensstil sprach allem Hohn, an das wir geglaubt hatten. Er hatte die Zeit, die ihm das Elixier geschenkt hatte, trefflich genutzt: Er besaß größeren Reichtum, als er je hätte ausgeben können, er war weltmännisch, gerngesehener Gast der besseren Gesellschaft, ein Charmeur. Einer, den jeder liebte, egal ob Frau oder Mann.« Lysander lachte auf, verbittert und voller Hohn.
    »Nestor hatte Jahrhunderte gelebt, während er sich diese Eigenschaften aneignete – und er hatte gelernt, wie es möglich war, in jeder Generation eine neue Identität anzunehmen, ohne seinen Besitz zu verlieren. Kein armseliger Einsiedler wie Morgantus und ich. Ein Lebemann, eine Persönlichkeit. Und ein Genie.«
    Lysander machte eine Pause und warf Sylvette einen Blick zu. Sie bestärkte ihn mit einem zaghaften Lächeln, fortzufahren.
    »Ja, Aura«, sagte er, »bei allem Pomp, den er um seine Person auftürmte, war dein Vater ein wahres Genie, das Morgantus in den Belangen der Alchimie haushoch übertroffen hat. Ich selbst habe, um ehrlich zu sein, nie viel von diesen Dingen verstanden, wenigstens nicht die spirituelle, die philosophische Seite. Morgantus besaß zwar den nötigen Verstand, aber nicht die geistige Beweglichkeit. Als wir Nestor wiedertrafen, war Morgantus’ Wissen immer noch auf demselben Stand wie sechs Jahrhunderte zuvor. Er hat sich nie fortentwickelt, hat nie, nachdem er einmal die Lösung kannte, nach anderen, besseren Wegen geforscht. Nestor aber war anders. Nachdem er die eine Kunst gemeistert hatte, machte er sich daran, sie mit der nächsten noch zu übertreffen.«
    »Die Suche nach dem Gilgamesch-Kraut«, flüsterte Aura über den Abgrund hinweg.
    »Unsterblichkeit, ohne den Tod anderer dafür in Kauf nehmen zu müssen, ohne Inzest oder Morde, ohne sich selbst Tag für Tag noch tiefer zu verachten. Das war es, was Nestor wollte! Das war sein Ziel! Und, glaube mir, Aura, es würde mir nicht gelingen, den Neid zu beschreiben, der in Morgantus und mir entflammte. Wir wollten besitzen, was er besaß, mehr noch, was er in Zukunft besitzen würde! Damals nahmen wir Abschied vom Klosterleben und gingen nach Wien. Vor allem Morgantus begann, gewisse Elemente der dortigen Unterwelt auf seine Seite zu ziehen, und zum ersten Mal entwickelte er eine Gerissenheit, die über den Intellekt des Alchimisten hinausging. Mit jedem Schritt aber, mit dem er seine Macht vermehrte, zog er sich selbst in den Hintergrund zurück. Ich wurde seine Strohpuppe, seine Marionette. Immer, wenn ein Name genannt wurde, war es meiner; immer, wenn ein Auftritt vonnöten war, war ich es, der ins Rampenlicht treten mußte. Alles war wieder wie damals, als ich noch ein Kind war – Morgantus war der Meister, ich nur der Gehilfe. Er gestattete mir keine eigenen Entscheidungen, keine Wünsche, keine Hoffnungen, und ich fügte mich, um seine Gunst nicht zu verlieren. Oh, ich versuchte manches, um mich von diesem Elend abzulenken, etwa die Malerei, die Poesie, auch das Glücksspiel. Ich war gut darin, mir vorzugaukeln, daß ich es war, der die Fäden in der Hand hielt, denn schließlich war es mein Name, den man angsterfüllt flüsterte,

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