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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Die Anstrengung der Reise fiel mit einem Schlag von ihr ab. Ganz gleich, was sie im Schloß erwarten mochte – in diesem Moment war Aura überzeugt, es würde sich auf die eine oder andere Weise zum Guten wenden.
    Gian löste sich schließlich von ihr, und da fiel Auras Blick zum ersten Mal auf eine Silhouette, die sich oberhalb der Düne vom Himmel abhob. Die Gestalt bemerkte, daß Aura sie entdeckt hatte, und setzte sich in Bewegung. Mit weiten Schritten stapfte der Mann den Hang herab.
    Als er ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte, erkannte sie ihn. Es war gut, daß Gian in diesem Augenblick ihre Hand hielt; es war gut, daß da etwas war, das ihr sagte: Dies ist die Wirklichkeit! Hier, du kannst meine Finger fühlen, meine Hand! Egal, was du auch denken magst, es ist kein Traum!
    Später machten Aura und Sylvette sich auf einen Weg, den sie allein gehen mußten. Ohne Gillian und ohne die Kinder. Nur sie beide, Schwestern, Töchter, allein auf einem langen Flur im Schein fahler Gaslampen.
    Sylvette klopfte sachte an die Tür, doch niemand bat sie herein. Da legte Aura entschlossen die Hand auf die Klinke und öffnete. Ein strenger Geruch drang ihnen entgegen, der Odem von Leid und Trauer und ungelüfteten Betten.
    Eine weiße Binde bedeckte Charlottes Augen. Ihr einstmals schwarzes, volles Haar war grau und spärlich geworden. Sie lag in ihrem riesigen Bett, eine Erhebung unter der glatten weißen Decke, ein zerklüfteter Hügel in unberührter Schneelandschaft.
    »Mutter«, flüsterte Aura sanft, setzte sich auf die rechte Bettkante und ergriff zaghaft Charlottes Hand. Mit einem Mal wußte sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Die spontanen Gefühle, auf die sie vertraut hatte, wollten sich nicht einstellen. »Ich bin zurück«, preßte sie deshalb hervor, kurz und einfallslos; sie fühlte sich schuldig dafür.
    Charlottes Lippen bebten. »Hast du Sylvette mitgebracht?« Ein halblautes Krächzen, wie das Knirschen von Sand in einem Zahnradgetriebe.
    »Ja, Mutter, ich bin hier«, sagte Sylvette gefaßt. »Ich bin bei dir.«
    Sie nahm auf der anderen Seite des Bettes Platz, streichelte vorsichtig über die dünnen Haarsträhnen, küßte eine trockene, eingefallene Wange.
    Charlotte schwieg, nur ihre Mundwinkel zuckten. Da begriff Aura, daß ihre Mutter weinte. Sie konnten es nur nicht sehen, weil die Augenbinde ihre Tränen auffing.
    Aura blieb still und überließ ihrer Schwester das Reden. Sylvette machte das sehr gut, erzählte nette, harmlose Dinge, sprach gütig und einfühlsam, und Aura beneidete sie einen Moment lang um diese Gabe; sie selbst war nicht fähig dazu, war es auch früher nie gewesen. Sylvette aber legte eine Liebe in ihre Stimme, die den Groll zwischen Aura und Charlotte aufwog. Aura fühlte, daß es unnötig war, noch länger zu bleiben. Was ihre Mutter jetzt brauchte, konnte allein Sylvette ihr geben.
    Sie erhob sich, nickte ihrer Schwester aufmunternd zu und erkannte an ihrem Lächeln, daß sie verstand, was in Aura vorging. Sylvettes Blicke folgten ihr auf dem Weg zur Tür, während ihr Rosenblütenmund weiter auf Charlotte einsprach, zärtlich, freundlich, sanft.
    Aura verließ das Zimmer ohne einen Laut, zog leise die Tür hinter sich zu. Sie nahm keinen Abschied von ihrer Mutter. Eine Tragödie, vielleicht, wenn auch nur schmerzhaft in ihrer Banalität.
    Sie fand Gillian auf dem Dachboden. Draußen war es dunkel geworden. Sterne flimmerten in der Finsternis, mal heller, mal dunkler. Er stand unter der Glasschräge, blickte über die Zypressen hinweg in den Himmel, zur Nacht empor.
    Die Relieftür war weit geöffnet. Aura hatte den Schlüssel ins Meer geworfen. Die Geschichte des Schlosses war jetzt eins mit seinen Bewohnern, die Bewohner Teil seiner Geschichte. Das Gemäuer, der Dachgarten, die Alchimie und Aura – alles eins. Glieder eines Ganzen, die sich bedingten, einander endlich akzeptierten.
    So also, dachte sie, sterben Geheimnisse.
    Sie nahm Gillian bei der Hand, begegnete seinen weisen, schönen Augen. Dann führte sie ihn ins Unterholz. Die Palmwedel und Zweige zitterten leise.
    Auf Nestors Grab saß ein Pelikan. Er stakste würdevoll zur Seite, als Aura in die Knie ging und mit den Händen das Unkraut teilte.
    »Schau«, flüsterte sie Gillian zu, »ich will dir etwas zeigen.«
    Und während er sich hinhockte und sah, was sie meinte, blickte Aura an ihm vorbei in den Nachthimmel. Ihr Gesicht spiegelte sich klein und verloren im Glas des Daches, schwebte hell inmitten der

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