Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
hatte, nicht für jemanden hielt, der sich vor seinen Gegnern in dunkle Ecken verkroch. Wo also steckte der Alchimist, und was, zum Teufel, heckte er aus?
»Sollen wir uns trennen, oder –«, begann Giacomo, aber Gillian schnitt ihm mit einem heftigen Kopfschütteln das Wort ab.
»Wir bleiben zusammen«, entschied er.
Da die Bibliothek keinen zweiten Ausgang besaß, beschlossen sie, zuerst das Dickicht zu durchforsten. Ein Vorhaben, das sich als mühsamer erwies als erwartet. Sogar das Kräuterbeet im Zentrum des Gartens war hüfthoch mit Unkraut überwuchert und mußte Stück für Stück abgeschritten werden. Was hier einmal angepflanzt oder gesät worden war, ließ sich zwischen wildem Gras, Brennesseln und Löwenzahn nicht mehr erkennen.
Als gewiß war, daß Morgantus sich nirgendwo im Unterholz verbarg, machten sie sich daran, die Bibliothek zu sichern. Doch auch zwischen den alten, staubigen Regalen entdeckten sie keine Menschenseele. Einige Bücher waren achtlos hervorgezogen und zu Boden geworfen worden; sie lagen dort wie tote Vögel mit gespreizten Flügeln.
Schließlich kehrten sie in den vorderen Teil des Dachbodens zurück. Über dem Glasdach war der Tag angebrochen. Gillian wußte nicht, wie lange er und Giacomo sich jetzt schon hier oben aufhielten. Es mochten zwanzig Minuten oder auch zwei Stunden sein. Die Tatsache, daß keine weiteren Getreuen des Alchimisten aufgetaucht waren, machte ihm Hoffnung. Vielleicht war zumindest Lascaris Gruppe an der Außenseite des Schlosses erfolgreich gewesen. Möglicherweise hatte der Großmeister auch Morgantus längst entdeckt, und sie vertaten hier oben nur ihre Zeit.
»Gehen wir«, sagte er und wandte sich zur Tür. Giacomo war sichtlich froh darüber. Trotz seines Alters und seiner Müdigkeit schien ihm nicht wohl dabei zu sein, die anderen Templer sich selbst zu überlassen.
Für den Fall, daß doch noch einige von Morgantus’ Männern am Leben waren, wählten sie nicht den Weg, den sie gekommen waren, sondern stiegen durch das westliche Treppenhaus zum Erdgeschoß hinab. Auf halber Höhe entdeckten sie drei ihrer Ordensbrüder, von den Schwertern der Feinde niedergemäht, mit verdrehten Gliedern und verzerrten Gesichtern. Einer hing über dem Geländer; der zweite lag schräg auf den Stufen, den Kopf fast von den Schultern getrennt; der dritte war die Treppe hinabgerutscht und erst einige Meter tiefer von der Biegung der Wand aufgehalten worden.
Giacomo bestand darauf, die Leichen würdevoll auf ebenem Boden aufzubahren und ihnen den letzten Segen zu geben. Gillian wollte ihm beistehen, doch ihm gefiel die Ruhe nicht, die das Schloß von oben bis unten durchdrang; nirgends regte sich etwas, hinter keiner Tür, auf keinem der langen, düsteren Flure. Die Stille war gespenstisch. Giacomo bemerkte Gillians Sorge und ermunterte ihn, die Suche nach Lascaris Gruppe allein fortzusetzen; er selbst wolle nachkommen, sobald er den Seelenfrieden der toten Brüder gewährleistet hatte. Etwas in Gillian sträubte sich gegen diese Entscheidung, doch schließlich gab er nach und ließ Giacomo zurück.
Wenig später entdeckte er die drei anderen Brüder im Freien, jenseits des Zypressenhaines. Lascari lag mit einer blutenden Beinwunde am Rand des kleinen Hafenbeckens. Er schien starke Schmerzen zu haben, war aber bei Sinnen. Ein zweiter Bruder kauerte neben ihm und mühte sich, Lascaris Bein oberhalb der Verletzung abzubinden. Das dritte Mitglied der Gruppe war tot; sein Schädel trieb im Wasser, gleich neben dem Leichnam eines von Morgantus’ Männern. Drei weitere Gefolgsleute des Alchimisten lagen leblos zwischen der Bucht und den vorderen Zypressen.
Lascari sah Gillian aus dem Schatten der Bäume treten. »Wir haben sie besiegt«, keuchte der Tempelherr schmerzerfüllt. »Es war ein ehrenvoller Kampf.«
»Daran zweifle ich nicht.« Gillian ging neben ihm in die Hocke und beugte sich über die Wunde. Von nahem sah sie noch schlimmer aus.
»Er hat viel Blut verloren«, sagte der Mann an der Seite des Großmeisters. »Aber ich glaube, er kommt durch, wenn sich innerhalb der nächsten ein, zwei Stunden ein Arzt um ihn kümmert.«
Gillian nickte düster. »Nimm eines der Boote, und bring ihn an Land. Im Dorf gibt es alle Hilfe, die er braucht.«
»Nein«, preßte Lascari zwischen blutleeren Lippen hervor. »Morgantus ist immer noch irgendwo auf der Insel.«
»Laß das meine Sorge sein, Bruder«, sagte Gillian sanft.
»Nein«, widersprach Lascari noch einmal,
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