Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
mein Name, der sogar den Kaiser mit Ehrfurcht erfüllte. Doch darüber begann ich zu vergessen, daß die eigentliche Macht hinter diesem Namen einem anderen gehörte.«
Aura betrachtete ihn eingehend, das graue Haar, den gebeugten, altersschwachen Rücken, die seltsamen, wie von Angst geweiteten Augen. »Aber etwas geschah, nicht wahr? Etwas, das alles verändert hat.«
Lysander stieß ein asthmatisches Husten aus, dann nickte er. »Sylvettes Geburt. Was immer die Beweggründe für meine Nacht mit Charlotte waren – plötzlich war ich Vater einer Tochter, einer echten Tochter. Kein Vieh auf der Schlachtbank meiner Unsterblichkeit, kein Opfer, das irgendwann für mich ausbluten würde. Ich war Vater geworden, und ich entdeckte plötzlich Gefühle in mir, die mir selbst nach all den Jahrhunderten noch neu waren.«
Sylvette machte einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Lysander ergriff sie dankbar, hielt sie fest mit seinen dürren Fingern umschlossen. Der Anblick war so absurd nach allem, was sie gerade gehört hatte, daß Aura den Blick hastig abwandte und hinab in die graue Tiefe des Hofes starrte. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie tief dieser Schlund tatsächlich war – auf alle Fälle tiefer als die drei Stockwerke, die das Kloster an der Außenseite maß. Sie fragte sich, wie lange ein Mensch wohl fallen würde, bis er am Boden aufschlug. Wie lange sie fallen würde. In einem erneuten Anflug von Panik zuckte sie zurück und wandte sich wieder ihrer Schwester und Lysander zu.
»Sie haben Sylvette damals noch nicht gekannt«, wandte sie ein.
»Wie konnten Sie da Gefühle für sie entwickeln, ganz gleich, welcher Art?«
»Ich habe sie beobachtet, manchmal, im geheimen, ohne, daß jemand mich bemerkte. Aber ich wußte auch, daß sie es bei Nestor besser hatte als bei mir im Wiener Untergrund – so schmerzlich diese Erkenntnis damals auch für mich war! Ich beschloß, abzuwarten, bis der Tag kommen würde, um mich von Morgantus zu lösen, bis ich Wien verlassen und ein eigenes Leben führen konnte, wie der verhaßte Nestor es mir vorgeführt hatte. Mit einem Unterschied allerdings: Ich faßte den Entschluß, von der Unsterblichkeit Abschied zu nehmen. Ich verzichtete auf weitere Töchter, auf weiteres Blut. Ich beschloß, zu altern.«
»Was hielt Morgantus von dieser Entscheidung?«
»Er tobte. Er verfluchte mich. Und es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, um was es ihm dabei tatsächlich ging. Es war die Einsamkeit, die er fürchtete. Er wußte, daß er nicht wie Nestor war, daß es ihm niemals gelingen würde, eine Familie um sich zu scharen, sein Leben von Grund auf zu ändern. Damals, im dreizehnten Jahrhundert, als er zum ersten Mal die Unsterblichkeit gewann, war er bereits ein alter Mann. Und ein alter Mann ist er immer geblieben – anders als Nestor und ich, die viel jünger waren, als wir das Elixier zum ersten Mal zu uns nahmen. Morgantus war auf mich angewiesen. Deshalb war ihm meine Entscheidung so verhaßt. Und dennoch gab er nach seiner anfänglichen Aufregung vor, sich damit abzufinden. Er ließ mir meinen Willen, und ich Dummkopf habe ihm geglaubt. Wie hätte ich auch ahnen können, was er tatsächlich plante?«
»Er beschloß, zu warten.« Aura verstand jetzt, wohin diese Geschichte führte. »Morgantus entschied, Sie altern zu lassen, nicht wahr? So lange, bis Sylvette alt genug sein würde, um ein Kind auszutragen. Ihr Kind.«
»Tess«, bestätigte Lysander mit bebender Stimme. »Morgantus ließ Sylvette entführen und nach Wien bringen. Er hat mich erpreßt. Er drohte, Sylvette zu foltern, würde ich nicht …«
»Ein Kind mit mir zeugen.« Sylvettes Stimme klang so sachlich, als würden sie und ihre Schwester Kochrezepte austauschen.
»Er hat uns gezwungen«, sagte Lysander bitter. »Sylvette war noch ein Kind, und ich … ich habe Angst um sie gehabt. Nicht um mich. Ich wäre mit Vergnügen für sie gestorben, und Morgantus wußte das. Er hat kein einziges Mal mich selbst bedroht, immer nur sie. Er wußte, daß dies der einzige Weg war, Druck auf mich auszuüben.«
Aura erinnerte sich wieder an den Greis im Gebirge, den alten, widerwärtigen Mann in der Berghütte. Sie hatte gesehen, wie er ein Mädchen ermordete – und doch war das nur ein Vorgeschmack auf die abgrundtiefen Schrecken gewesen, die sie jetzt über ihn erfuhr.
Und im selben Augenblick dämmerte ihr, daß er gar nicht hier war. Nicht hier in diesem Gemäuer. Vielleicht nicht einmal in
Weitere Kostenlose Bücher