Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
schon unverständlicher. »Ich muß –«
»Du mußt überleben, Bruder, nichts sonst«, sagte Gillian, stand auf und wandte sich an den anderen Templer. »Bring ihn an Land, schnell. Sonst stirbt der Orden zusammen mit seinem Großmeister.«
Im selben Moment ertönten hinter ihnen Schritte. Gillian fuhr herum, bereit, sein Leben für Lascari zu lassen.
Doch die Gestalt, die zwischen den Zypressen hervortrat, war Giacomo. Mit einem Blick erfaßte er, was geschehen war.
»Fahr mit ihnen«, bat Gillian. »Der Meister muß zu einem Arzt.«
Giacomo nickte stumm, und diesmal widersprach auch Lascari nicht mehr – er hatte das Bewußtsein verloren.
Wenig später stachen die drei Männer mit einem Ruderboot in See. Lascari lehnte mit dem Rücken im Bug und hatte die Augen geschlossen, während sich die beiden Männer in die Riemen legten. Gillian wartete ab, bis die Jolle die steinernen Löwenpfosten an der Einfahrt des Hafenbeckens passiert hatte, dann drehte er sich um und lief zurück zum Schloß.
Als erstes suchte er Charlottes Gemächer auf. Sie waren leer, und das bestätigte seine Vermutung.
Er wußte jetzt, wo er Morgantus finden würde.
Lysanders Stimme klang von Minute zu Minute schwächer. Das Sprechen strengte ihn an, gewiß, aber es war die Erinnerung selbst, die ihm den Rest seiner Kräfte nahm. Ausgiebig schilderte er die Umstände seiner ersten Begegnung mit Morgantus, ohne dabei zu verschweigen, welche Verbrechen er im Auftrag des Tempelherrn begangen hatte.
Auras Ekel wuchs, als sie von all den Mädchen hörte, die Lysander seinem Meister zugeführt hatte. Zugleich aber verwischten die Jahrhunderte den Schrecken dieser Taten.
»Morgantus hat mich angelogen«, behauptete Lysander erschöpft.
»Er hat bereits damals, bald nach unserem ersten Treffen, behauptet, er habe das Lebenselixier gefunden, und es sei lediglich nötig, die Wirkung aufzufrischen. Die Wahrheit aber war, Morgantus war ebenso sterblich wie ich und Nestor und jeder andere. Erst Jahre nachdem er mich als seinen Gehilfen angenommen hatte, erkannte er das wahre Arkanum. Auch andere haben es versucht, immer und immer wieder, und doch waren ihre Mühen vergeblich. Ich weiß nicht, wie Morgantus hinter das Geheimnis kam, nicht einmal, wann genau das geschah – und doch, er hat es vollbracht.«
Lysander schüttelte gedankenverloren den Kopf und klopfte sachte mit dem Stock auf den Rand der Bodenöffnung. »Die Lösung des Rätsels lag nicht in der Konsistenz des Blutes, wie Morgantus lange Zeit angenommen hatte, auch nicht allein im Geschlecht der Opfer. Tatsächlich war es ihre Herkunft. Blut war die wichtigste aller Zutaten, aber es mußte besonderes Blut sein.« Er blickte auf und sah Aura in die Augen. »Die Regeln der Alchimie – oder wollen wir in diesem Falle sagen: der Magie? – sind undurchschaubar. Es waren jahrelange Experimente, die Morgantus irgendwann auf die richtige Spur brachten. All die Mädchen, die sterben mußten, waren nur kleine Schritte auf dem Weg zur Lösung.«
»Welcher Lösung?« fragte Aura leise, obgleich sie es ahnte.
»Es mußte das Blut der eigenen Tochter sein. Immer wieder der eigenen Tochter. Eine Kette von Vergehen an eigenem Fleisch und Blut, die sich durch die Jahrhunderte zieht. Morgantus hat es getan, und ich ebenso. Und dein Vater, Aura. Nestor hat es noch lange vor mir erfahren, als er die Aufzeichnungen über Morgantus’ Forschungen stahl und verschwand. Der Alchimist zeugt ein Kind mit seiner eigenen Tochter. Bis dahin muß sie jungfräulich bleiben, und das Kind, das sie gebiert, muß wiederum ein Mädchen sein, um die Kette fortzusetzen. Irgendwann wird auch diese Tochter ein Mädchen zur Welt bringen, und jenes wiederum ein Mädchen, und das nächste ebenso. Und immer ist der Alchimist der Vater.«
»Und die Mütter werden nach der Geburt getötet.« Aura war atemlos vor Abscheu und Grauen.
»Ja«, bestätigte Lysander. »Ihr Blut ist die wichtigste Zutat, der Quell des Arkanums, die Basis des Elixiers. In ihrem Blut liegt das Geheimnis des ewigen Lebens.«
Aura spürte, wie der Schock sie einlullte. Sie wurde ganz gelassen, ganz entspannt. Hörte zu und versuchte, zu begreifen. Nachzuvollziehen. Sogar Verständnis aufzubringen.
Lysander stützte sich mit beiden Händen auf den Stock. Aus dem Abgrund fegte ein Luftzug empor und trieb sein langes Haar auseinander wie einen Wirbel aus Spinnenfäden. »Wir alle haben generationenlang Töchter gezeugt, und mit ihnen abermals
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