Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Waldduft verbannte hier vollkommen den Algengeruch der See. Es war, als hätte sich inmitten dieser Insel, kahl und leer und abweisend, ein heimliches Fenster aufgetan, ein Fenster zu einem anderen Ort, der Wärme und Behaglichkeit versprach. Das alles erinnerte Christopher an die ehrfurchtsvolle Stille eines Friedhofs.
Bald darauf blieben die Zypressen zurück, und vor ihnen erhob sich das hohe Portal des Schlosses. Vier breite Stufen führten hinauf zu einer doppelflügeligen Tür.
Aber es war nicht das mächtige Portal, das Christopher so beeindruckte. Es waren die Fenster, die er nun zum ersten Mal aus der Nähe sah.
Sie alle waren aus farbigem Bleiglas, bunte Mosaike, die groteske Bilder und Szenen darstellten, ein Feuerwerk aus fremdartigen Motiven, wie Christopher sie nie zuvor gesehen hatte. Es gab keine Ausnahme. Nicht ein einziges Fenster war aus klarem Glas.
Charlotte drängte ihn und Sylvette, ihr schnell ins Warme zu folgen. Christopher gelang es dennoch, die beiden Fenster rechts und links des Portals genauer zu betrachten.
Das eine zeigte einen Geier, der auf der kahlen Spitze eines Felsens hockte und dabei ein langes Spruchband im Schnabel hielt. Darauf standen mehrere lateinische Wörter, die Christopher bei längerem Hinsehen vielleicht hätte übersetzen können, nicht aber im Vorbeigehen. Um den Felsgipfel kreiste ein Rabe, dessen eines Auge ihn aus dem Bild heraus anstarrte.
Auf dem zweiten Fenster, rechts der Tür, war ein aufrechter Stab dargestellt, um den sich zwei Schlangen ringelten. Ihre Zungenspitzen berührten sich. Der Stab endete in einer Magnolienblüte, die wiederum in einen Stern überging. Am Himmel darüber war auf der einen Seite ein Mond zu sehen, auf der anderen eine Sonne.
Beinahe widerwillig versuchte Christopher, seine Aufmerksamkeit von den beiden Fenstern zu lösen. Da waren noch unzählige andere, die es zu betrachten galt. Es kostete ihn deshalb einige Mühe, sich diesem Drang zu widersetzen und hinter Charlotte und Sylvette die Eingangshalle zu betreten.
Der Raum, nein, der Saal wurde von einem gewaltigen Kamin beherrscht, genau gegenüber der Tür. Die Öffnung schien so hoch und tief zu sein wie der Eingang einer Höhle, sie war fast ein Zimmer für sich; die Kammer von Bruder Markus war kaum größer gewesen. Das Feuer, das darin brannte, wirkte verloren in der Weite des steinernen Schlundes.
Der Parkettboden der Halle war mit hohen, flauschigen Teppichen ausgelegt, die meisten in dunklen Rot- und Brauntönen. Auf der linken Seite führte eine geschwungene Freitreppe ins nächste Stockwerk. Bilder und Leuchter hingen an den getäfelten Wänden, dazu Ornamente, Wappen und Stickereien. So groß war die Vielzahl der Eindrücke, daß Christopher das Gefühl bekam, sich irgendwo festhalten zu müssen, um nicht von der Flut davongerissen zu werden.
Charlotte sah sich ebenfalls irritiert um, wenn auch aus anderem Grund. »Wo steckt denn die Dienerschaft?« fragte sie ins Leere.
»Im Speisezimmer«, sagte Sylvette. Sie zwinkerte Christopher verstohlen zu, eine unverhofft freundschaftliche Geste, die ihn erstaunte. Er erwiderte das Blinzeln und schenkte ihr zudem ein Lächeln, von dem er hoffte, es wirke herzlich.
»Sie haben sich alle dort versammelt, um dich kennenzulernen«, sprudelte das Mädchen vergnügt hervor, fast, als gelte ihr diese Ehre.
»Mutter, du selbst hast ihnen doch die Anweisung gegeben.«
Charlotte nickte zögernd, schien aber keineswegs zufrieden. »Und Aura? Wo ist Aura? Und wo, zum Teufel, steckt Daniel?«
Ihre Erregung verwunderte Christopher sehr, zumal sie nun hektisch und regelrecht aufgebracht in der Halle auf und ab lief. Sie schien ernstlich beunruhigt.
Da erklang vom oberen Ende der Freitreppe eine Stimme:
»Ich bin hier, Mutter.«
Charlotte fuhr zusammen. »Aura!« stieß sie hervor. »Wenigstens du erinnerst dich an deine gute Erziehung.«
Das Mädchen, das am oberen Treppenabsatz aufgetaucht war und jetzt langsam die Stufen herabstieg, verzog einen Augenblick lang das Gesicht. Häme blitzte in ihren Zügen.
Aura Institoris war in Christophers Alter und hatte das rabenschwarze Haar ihrer Mutter geerbt. Ihre Augen leuchteten blaßblau wie die von Sylvette. Ihre Wimpern waren wie schwarze Strahlenkränze, lang und fein und wohlgeformt. Sie hatte dichte, dunkle Brauen, die sie stets ein wenig wütend aussehen ließen. Ihre Mundwinkel aber waren zum angeborenen Hauch eines Lächelns aufgeschwungen, was ihrem Antlitz eine
Weitere Kostenlose Bücher