Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
reizende Gegensätzlichkeit verlieh. Ihre weiße Haut war glatt und auf dem Nasenrücken mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt. Sie trug ein scharlachrotes Kleid, schwarzbraun abgesetzt, das ihre schlanke Gestalt betonte.
Christopher, der im Waisenhaus unter Jungen aufgewachsen und mit dem Anblick schöner Frauen nicht vertraut war, war denkbar beeindruckt. Mehr als das.
Doch seine Begeisterung währte keine zwei Atemzüge, denn Aura sagte: »Ist das etwa der Neue?« Ihr Tonfall klirrte vor Ablehnung. Christopher war es, als hätte er sich unverhofft am Dorn einer blühenden Rose verletzt.
»Dein Bruder«, entgegnete Charlotte betont, »Christopher.«
Aura blieb am Fuß der Treppe stehen, kam nicht näher. Sie musterte ihn mit einer Gleichgültigkeit, die gespielt sein mochte, ihre Wirkung auf ihn aber nicht verfehlte. Er fühlte sich plötzlich unwillkommen und überflüssig.
Seine Stiefmutter war jedoch sogleich bemüht, Auras Verhalten den Stachel zu ziehen. »Dir geht es nicht gut, mein Schatz, nicht wahr?« In ihrem mitfühlenden Säuseln lag ein Unterton, der besagte: Darüber werden wir uns unterhalten müssen !
Christopher versuchte, Auras Aufmerksamkeit mit seinen Augen einzufangen. Das Feuer, das in ihren Pupillen brannte, mochte manchem Verheißung sein, ihm aber schien es wie lodernder Zorn. Was machte sie nur so wütend?
»Du hättest wenigstens deine Ohrringe tragen können, mein Liebling.« Charlotte versuchte immer noch, durch gekünstelte Sanftmut die Lage zu retten.
»Aber ich trage meine Ohrringe doch«, gab Aura mit Unschuldsmiene zurück – dabei war für jeden ersichtlich, daß sie das nicht tat. Ihre Finger tasteten nach ihren Ohrläppchen, und sogleich erschien ein derart falscher Ausdruck von Überraschung auf ihrem Gesicht, daß Christopher überzeugt war, Charlotte könne ihn kaum mehr tolerieren.
»Oh«, machte Aura mit entwaffnendem Lächeln. »Ich muß mich getäuscht haben.«
Einen Moment lang starrten sie und ihre Mutter sich mit eisiger Verachtung an. Dann preßte Charlotte mühsam eine Frage hervor:
»Wo steckt Daniel?«
»Das wollte ich dich fragen. Ich suche schon eine ganze Weile nach ihm.«
Charlottes Blick wich nicht von ihr, wohl um herauszufinden, ob Aura sie abermals aufziehen wollte. Diesmal aber schien die Antwort ehrlich zu sein. Unvermittelt schrak Charlotte zusammen, als sei ihr mit einemmal ein schlimmer Gedanke gekommen. »Liebe Güte«, entfuhr es ihr, »wo kann er nur wieder stecken? Er wird doch keine Dummheit gemacht haben?« Taumelnd legte sie eine Hand an die Stirn, es sah aus, als wollte sie ohnmächtig zu Boden sinken. Das aber war ein Bild, welches so gar nicht zu jener Charlotte paßte, die Christopher vor wenigen Stunden kennengelernt hatte. Das Benehmen dieser Leute wurde ihm immer rätselhafter.
»Ach was«, sagte Aura, »er wird schon wieder auftauchen. Wahrscheinlich sitzt er in der Bibliothek.« Damit wandte sie sich ab und öffnete eine Tür unterhalb der Treppe, die Christopher bislang gar nicht aufgefallen war. Dahinter lag ein langer, spärlich beleuchteter Korridor.
»Gib mir sofort Bescheid, wenn du ihn gefunden hast«, rief Charlotte ihr nach. Ihre Stimme klang hoch, beinahe schrill. Kein Gedanke mehr an Auras Ungehörigkeit.
Das Mädchen gab keine Antwort und zog die Tür hinter sich zu, verschwand schweigend im unergründlichen Bauch des Schlosses.
Christopher dachte beunruhigt, daß sich in diesem Haus wohl noch viele Türen vor ihm öffnen würden, von deren Existenz er bisher nichts ahnte.
Sylvette zupfte an seinem Ärmel. Als er sich zu ihr hinabbeugte, flüsterte sie: »Vater wohnt unterm Dach. Er kommt niemals herunter. Niemals.«
Noch ehe Christopher reagieren, irgend etwas sagen konnte, griff Charlotte mit gefestigtem Lächeln nach seiner Hand.
»Komm jetzt, mein Schatz. Wir müssen dich der Dienerschaft vorstellen.«
Vielfarbige Lichtkaskaden ergossen sich durch die hohen Fenstermosaike. Der Hauptflur des Westflügels erstreckte sich vor Aura wie ein Tunnel durch einen Regenbogen. Selbst das dämmrige Herbstlicht vermochte noch die herrlichsten Farbenspiele in den Fenstern zu erzeugen, projizierte sie wie Bilder einer Laterna magica auf die gegenüberliegende Wandtäfelung.
Heute aber verschwendete Aura keine Aufmerksamkeit an diese Wunder der Glaskunst. Zu viele Sorgen beschäftigten sie, brachten sie schier zur Verzweiflung. Eine davon hatte sie eben erst kennengelernt. Christopher. Noch ein Fremder im
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