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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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habe ich…« Sie brach ab.
    Der rote Himmel. Die Erinnerung. So viel Rot.
    Die Klinge des Messers war gebogen, die Schneide gezahnt.
    »Das gehört… mir nicht«, stammelte sie.
    »Es ist das Messer eines Assassinen«, sagte Innana. »Du musst es einem von ihnen abgenommen haben.«
    So viel Rot in ihrer Erinnerung.
    »Ich…« Erneut verstummte sie. Die Bilder kehrten zurück, fluteten zurück in ihr Bewusstsein wie gestautes Wasser.
    So unendlich viel Rot.
    Sie hatte das Messer aus seinem Gürtel gezogen. Und dann…
    »Denk nicht mehr daran«, sagte Innana leise. »Du lebst, das ist die Hauptsache.«
    Sie hatte die Klinge an seinem Arm angesetzt, am Arm des Toten. Und sie hatte…
    »Du tust dir nur selbst weh.«
    Sie hatte damit seinen Arm durchtrennt. Erst den schwarzen Stoff, dann das Fleisch, die Muskeln, die Sehnen. Den Knochen. Das Blut war überall um sie herum, sie konnte es schmecken, sogar – auf irgendeine irreale, bizarre Art und Weise – riechen, wie ein Haifisch auf Beutejagd. Und sie konnte es sehen, denn wenn Finsternis überhaupt eine Farbe haben konnte, dann war sie jetzt rot.
    Und die ganze Zeit über… die ganze Zeit über hatte sie geatmet. Hatte Wasser in ihre Lungen gesaugt und dabei überlebt.
    »Es war das erste Mal, nicht wahr?«, fragte Innana, und nun war aus ihrem Mitgefühl echtes Mitleid geworden.
    »Das erste Mal…«, wiederholte Aura benommen.
    »Dein Körper war tot – für einen Moment. Aber nicht dein Geist. Das ist eines der Geheimnisse, Aura. Eines von mehreren, vielleicht von vielen, aber nicht einmal ich kenne sie alle. Du stirbst, wenn dich jemand tödlich verwundet, wenn er dein Herz durchbohrt oder deinen Kopf abschlägt oder dich mit einem Pferd niedertrampelt. Du stirbst sogar an manchen Krankheiten – ich habe Unsterbliche an der Pest zugrunde gehen sehen, und an anderen Seuchen, die ihr längst vergessen habt. Du kannst auch verbluten, zumindest glaube ich das. Aber du kannst nicht ertrinken – zumindest nicht wie gewöhnliche Menschen. Du kannst auch nicht ersticken. Und was das Erfrieren angeht, nun, das wäre vielleicht einen Versuch wert.« Sie lächelte und versuchte erneut, Aura das Messer abzunehmen. Diesmal lösten sich Auras Finger ohne jeden Widerstand. »Es ist ein großes Mysterium, auch nach fünftausend Jahren. Manches kann man freiwillig ausprobieren, aber bei anderen Dingen hatte ich keine Wahl. Wie viele Menschen sterben wohl jeden Tag an einem gewaltsamen Tod? In fünf Jahrtausenden ist man mehr als einmal an der Reihe, glaub mir. Ich bin mit einem Schiff im Golf von Bengalen untergegangen, und beim Brand einer Scheune in Troja hätte ich eigentlich ersticken müssen. Ich war dabei, als London in Flammen stand und der Rauch zahllose Menschen das Leben kostete. Ich habe ein Dutzend Katastrophen miterlebt, und bei der Hälfte davon hätte ich sterben müssen. Aber ich bin eine Unsterbliche, Aura. Genau wie du.«
    »Aber… das ist Wahnsinn!«
    »Ich würde es eher ein Geschenk nennen.«
    Aura betrachtete ihre Hand, die das Messer gehalten hatte. Das Wasser des Sees hatte alle Blutrückstände fortgewaschen. Sie konnte trotzdem nicht vergessen, was geschehen war. Sah es und spürte es und würde es wahrscheinlich noch tausendmal in ihrer Erinnerung durchleben.
    »Ich habe davon nichts gewusst«, sagte sie tonlos.
    »Woher auch? Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um die Wahrheit zu erkennen. Und ich habe niemanden getroffen, der es jemals aufgeschrieben hätte. Wahrscheinlich hat nicht einmal dein Vater alles darüber gewusst. Und es ist ja nicht so, dass du überhaupt nicht sterben kannst – Gewalt, manche Art von Gewalt, kann uns töten. Und vielleicht sogar die Einsamkeit.«
    Aura schüttelte den Kopf. Innanas Sinn für Dramatik war erstaunlich, selbst in einer Lage wie dieser. Aber sie hatte jetzt keine Geduld dafür. Sie war ertrunken. Sie war tot gewesen. Und trotzdem lebte sie.
    Langsam richtete sie ihren Oberkörper auf, halb in der Erwartung, der Tod würde bemerken, dass sie ihm durch die Lappen gegangen war und nun doch noch, mit Verspätung, sein Recht fordern.
    Doch sie lebte, und sie würde weiter leben. Innana hatte Recht.
    Vielleicht war es wirklich ein Geschenk. Ein Geschenk, für das dennoch ein Preis bezahlt werden musste.
    »Ich will das nicht«, sagte sie langsam, als müsste sie jedes Wort erst in ihrem Gedächtnis suchen.
    »Natürlich willst du«, widersprach Innana, so ruhig, als würde sie ihr das Einmaleins beibringen.

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