Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
konnte, dann blieb ihr als Mutter keine andere Wahl. Sie hatte vieles gutzumachen und wusste doch nicht, ob sie gerade genau das Gegenteil bewirkte. Sie wusste es einfach nicht. Mit
den Konsequenzen würde sie leben müssen, aber das würde ihr leichter fallen als mit seinem Tod.
In ihrem Rücken sprach der Mönch fast tonlos ein Gebet, ein leises Raunen, das hierher zu gehören schien wie das Kreuz über dem Bett, das kleine Weihwasserbecken neben der Tür und das winzige Fenster, kaum größer als eine Schießscharte. Dieser Ort besaß eine Unvergänglichkeit, die zu dem passte, was sie tun musste: Sie würde ihren Sohn aus der Zeit herausnehmen, so wie einst sich selbst und Gillian. Wahrscheinlich machte sie das zur blasphemischsten Dreifaltigkeit, die je in diesem Kloster gesichtet worden war.
Gillian stand auf, kam um das Bett herum und setzte sich neben sie auf die Kante. Legte einen Arm um sie. Gab ihr einen langen Kuss.
»Es ist richtig so«, sagte er.
Sie lächelte ihre Tränen fort und legte die Öffnung der Ampulle an Gians trockene Lippen.
KAPITEL 60
Vier Wochen nach Sylvettes Bestattung im Mausoleum auf der Friedhofsinsel brachte Tess einen Sohn zur Welt.
Sie gebar ihn im Schloss, während ein Unwetter meterhohe Wellen gegen die Kreidefelsen peitschte und der Vater des Kindes in einem Zug aus Berlin festsaß. Der Sturm hatte mehrere Bäume über die Gleise geworfen und eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Später stellte sich heraus, dass Maximilian versucht hatte, das letzte Stück zu Fuß zu bewältigen und inmitten des Sturzregens und der jagenden Böen stundenlang über die Schienen nach Norden gelaufen war. Ein Pferdegespann hatte ihn irgendwann aufgelesen, ein paar Kilometer von der Küste entfernt, während er durchnässt und sterbenselend immer noch weitermarschieren wollte, seinem neugeborenen Sohn und dessen Mutter im Wochenbett entgegen.
Als man ihn ins Schloss brachte, hatte er Fieber und eine leichte Lungenentzündung, aber alle lobten ihn für seine Beharrlichkeit. Tess bestand darauf, dass Maximilian nach einem kurzen Blick auf seinen Sohn in ein Bett im Nachbarzimmer gesteckt wurde, und dort schlief er fast zwei Tage lang mit einem Lächeln auf den Lippen, das die zurückgekehrte Dienerschaft amüsierte und Tess verkünden ließ, sie habe nun wohl keine andere Wahl mehr, als diesen Kerl alsbald zu heiraten und zu überreden, so viel Zeit wie möglich mit ihr im Schloss zu verbringen.
Die Seeluft hatte ihrer Gesundheit gutgetan, ihr Atem hatte sich stabilisiert, und auch die Geburt war ohne größere Komplikationen vonstattengegangen. Das Kind war ein wenig zu
früh gekommen, aber Arzt und Hebamme versicherten, dass es kräftig und gesund sei und eines Tages ebenso ausdauernd und willensstark an Bahngleisen entlanglaufen werde wie sein Vater.
Aura, die während der Entbindung Tess’ Hand gehalten hatte, kümmerte sich seit ihrer Rückkehr um die dringendsten Belange im Schloss und arbeitete sich in die Geschäfte der Vermögensverwalter ein. Sylvette hatte penibel Buch geführt über jede Transaktion, jeden Gewinn und Verlust, und Aura hatte schon nach einem ersten Blick auf die akkurat sortierten Aktenordner und Dokumente gewusst, dass sie den Status quo nicht würde beibehalten können. Dennoch nahm sie sich vor, Sylvettes Vermächtnis zu pflegen, so gut sie es vermochte; und insgeheim hoffte sie, dass Tess diese Aufgaben bald übernehmen würde.
Das Kind erhielt den Namen Jonathan, und an einem Sonntagmorgen in der fünften Woche nach seiner Geburt trug Tess den Jungen hinüber zur Friedhofsinsel, um ihn ihrer Mutter vorzustellen.
Hier, endlich, sah sie Gian wieder.
Sie hatte schon über eine Stunde auf dem Steinquader vor Sylvettes Grab gesessen und abwechselnd mit ihr und mit Jonathan gesprochen, als die Tür des Mausoleums geöffnet wurde. Und da stand er, die Arme im Rahmen gespreizt, eine Silhouette, die sie auf Anhieb erkannte. Das Kind begann in ihren Armen zu weinen, beruhigte sich aber rasch wieder, als sie es fester an sich drückte und ein paar leise Töne summte.
»Du hast mich erschreckt«, sagte sie, als sie von dem kleinen Gesicht zu ihm hinübersah.
Gian trat ein, ließ aber die Tür hinter sich offen, als müsste er jeden Moment wieder aufbrechen. Man hätte ihn für einen Geist halten können, erst recht an diesem Ort, aber Tess konnte seine feuchte Kleidung riechen. Er musste mit einem Boot von der Schlossinsel übergesetzt sein. Sie selbst hatte den
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