Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
und blieb an ihrem Gesicht haften, trotz aller Sorge um ihn. Ganz gleich, was geschähe, sie würde den Ausdruck auf den Zügen ihrer Schwester niemals vergessen. Denn Sylvette, die tapfere Sylvette, die vielleicht nie gewusst hatte, wie sehr Aura an ihr hing, blickte nur sie an, sah ihr tief in die Augen. Und selbst über die Entfernung hinweg erkannte Aura, was gerade in ihr vorging.
»Mach schon!«, rief Sophia.
Gillian schoss viermal in die nächste Scheibe neben dem Stahlträger. Das Glas gab nach und stürzte fast vollständig aus dem Rahmen in die Tiefe. Von unten war ohrenbetäubendes Klirren zu hören, als die Scherben im Erdgeschoss zerschellten.
»Wirf die Waffe hinunter!«
Er gehorchte.
»Und jetzt«, sagte Sophia mit einem Lächeln, »spring hinterher.«
»Das wird er ganz sicher nicht tun!«, rief Aura.
»Das Leben deines Vaters war dir gleichgültig«, entgegnete Sophia. »Gilt das auch für das deiner Schwester?«
Und wieder Sylvettes Blick. Das ungute Brodeln im Schatten unter ihren Brauen.
Gillian blickte durch die Öffnung in die Tiefe. Der Schein aus der Passage erhellte seine schönen Züge. Sie waren blutverschmiert, aber das, was Gillians äußerliche Faszination ausmachte, dieses Unerklärliche, Rätselhafte, leuchtete durch die Schlieren wie ein innerer Glanz, der unaufhaltsam nach außen drang.
Er sah zu ihr herüber. Die Trauer in seinem Blick war nicht gespielt. Es gab keinen Plan, keine List in letzter Sekunde.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Bring das Kraut zu Gian. Und sag ihm, wie gern ich ihn immer gehabt habe, auch wenn ich es ihm nicht zeigen konnte. Dass ich Fehler gemacht habe. Und wenn er dir übel nimmt, was du tun musst ... dann gib mir die Schuld. Sag ihm, es war meine Idee.«
Sie konnte darauf nichts erwidern, hatte Mühe, ihn auch nur anzusehen, und so starrte sie stattdessen zu Sophia hinüber. »Ganz gleich, was noch hier oben geschieht, Sophia – du wirst diese Nacht nicht überleben.«
»Ich wollte immer nur deine Freundin sein«, sagte Sophia mit gesenkter Stimme. »Von Anfang an wollte ich dir nie etwas Böses.«
»Ich kann dir nicht meinen Vater ersetzen!«
»Es ist nicht nur das. Ich kannte dich schon so lange aus seinen Erzählungen, wusste alles über deine Kindheit, deine Wünsche und deine Enttäuschungen ... Und dann hast du
plötzlich als erwachsene Frau vor mir gestanden und alles, was ich dachte, war, dass ich Zeit mit dir verbringen will. Die ganze Zeit, die noch vor uns liegt.«
»Und das hier ist deine Art, mir das zu zeigen?«
»Ich will dir nichts antun. Und auch deiner Schwester nicht. Nur ihm. Begreifst du denn nicht, dass er den Tod verdient hat? Er hat dutzendfach gemordet, wieder und wieder. Es trifft keinen Unschuldigen.«
»Aber ich liebe ihn trotzdem. Gerade du solltest das verstehen.« Ihr Blick traf wieder Gillians. Eigentlich sprach sie zu ihm, sie wollte, dass er das erfuhr. »Ich habe ihn immer geliebt, auch in all den Jahren, in denen wir getrennt waren.«
Aura hätte ihm das nie unter vier Augen sagen können. Sie sprach ungern über ihre Gefühle, fürchtete stets, nicht die richtigen Worte zu finden. Doch wenn dies die letzte Gelegenheit war und es tatsächlich hier enden sollte, dann wollte sie, dass er es aus ihrem Mund hörte.
Sophia sah einen Moment lang verwirrt aus, so als wüsste sie nicht, wie sie auf so viel Offenheit reagieren sollte – vielleicht spotten, vielleicht lachen, vielleicht einfach nur schweigen –, aber dann schüttelte sie den Kopf wie über eine Torheit und sagte zu ihm: »Los, spring!«
Und damit niemandem Zweifel daran kamen, was auf dem Spiel stand, ritzte sie mit der Klinge Sylvettes Hals, bis ein dunkelrotes Rinnsal über die weiße Haut lief.
Sylvette verzog nicht einmal das Gesicht. Ganz ruhig schloss sie die Augen. »Tu es nicht, Gillian. Nicht für mich. Ihr müsst Gian retten!«
»Natürlich tut er es!«, stieß Sophia aus. »Weil sein Gewissen nicht verkraften kann, die Schuld am Tod eines Menschen zu tragen, der ihm etwas bedeutet.« Ein kaltes Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Töten ist leicht, nicht wahr, Gillian? Dann, wenn man sich sagen kann, das Opfer trage selbst die Schuld, durch
Leichtsinn oder Unmoral. Und solange man die endgültige Entscheidung allein in der Hand hat. Aber sobald man die Kontrolle verliert und nur noch reagieren kann ... dann ist es plötzlich etwas ganz, ganz anderes.«
Er antwortete nicht und wandte den Blick wieder dem Abgrund
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