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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gekalkte Wände lagen im trüben Licht weniger Lampen. An der Stirnwand hing ein Kreuz, das Aura schon von Weitem groß und wuchtig erschien und beim Näherkommen ihr ganzes Blickfeld einnahm. Bevor sie es erreichte, klopfte der Mönch an eine der Türen zur Rechten, wartete nicht auf eine Antwort und trat ein.
    Gian lag in einem Krankenbett, dessen Komfort sie an einem kargen Ort wie diesem überraschte. Zwei Mönche waren an seiner Seite, einer tupfte Gians Gesicht gerade mit einem feuchten Tuch ab, der andere las leise aus einer Bibel vor.
    Aura eilte an die Seite ihres Sohnes, beugte sich über ihn, sah wie seine geschlossenen Lider bebten und sich sein Brustkorb unter der Decke hob und senkte. Seine Lippen standen einen Spaltbreit offen.

    Gillian nickte dem Mönch zu, der sie hergeleitet hatte, und jener wiederum bat seine Brüder, die Kammer zu verlassen. In diesem Kloster, vielleicht sogar im selben Raum, war Gillian vor vielen Jahren von der Schussverletzung geheilt worden, die ihm Morgantus’ Fettfischer in den Katakomben der Hofburg zugefügt hatten. Danach hatte er sich dem Templum Novum angeschlossen, und Aura fragte sich, wie viel der Ort seiner Heilung zu dieser Entscheidung beigetragen hatte. Hatten sie auch ihm tagelang Bibeltexte vorgelesen? Und wie würde es um Gian stehen, wenn er das hier überlebte? Er war bereits in Paris von einem Abbé gerettet worden; vielleicht war ihm eine Umgebung wie diese nicht halb so fremd wie ihr.
    Die silberne Ampulle lag fest in ihrer Hand, seit sie das Kloster betreten hatten. Gillian nahm auf der gegenüberliegenden Bettkante Platz und nickte ihr aufmunternd zu. Mit zitternden Händen öffnete sie das winzige Gefäß. In dem Spalt zwischen Deckel und Corpus klebten Reste von Lysanders getrocknetem Blut. Es knirschte leise, als sie den Verschluss abschraubte.
    Der Inhalt war geruchlos. Falls Lysander den Sud des Gilgameschkrauts auf die gleiche Weise wie sie hergestellt hatte, dann war die Flüssigkeit klar, mit einer bräunlichen Tönung wie dünner Tee.
    Gians Züge waren eingefallen, als befände er sich schon seit Wochen in diesem Zustand und nicht erst wenige Tage. Die Mönche hatten ihn ernährt, soweit das möglich war. Auf dem Weg durch den Kreuzgang hatte ihr Begleiter ihnen noch einmal versichert, dass die Schusswunde selbst nicht tödlich war, ihn aber derart verletzt hatte, dass sein Körper nun gegen eine schleichende, schwer zu lindernde Entkräftung ankämpfte.
    Sie wechselte einen Blick mit Gillian. Schweiß stand auf seiner Stirn, wahrscheinlich machte ihm die Schlaflosigkeit der vergangenen Tage ebenso zu schaffen wie ihr. Aber sie war nicht müde; dazu pumpte ihr Körper viel zu große Mengen Adrenalin
in ihre Blutbahn. Und doch fühlte es sich an, als könnte der Damm jeden Augenblick bersten, und all die Trauer, all die Erschöpfung, all der Zorn würden geballt über sie hereinbrechen.
    Gillian und sie hatten nur einmal gerastet, damit Aura sich an einem See waschen konnte, so gut es eben ging mit Kleidung, die bis auf die Haut von Lysanders Blut durchtränkt war, entsetzlich klebte und stank. Die Grenzkontrolleure an einem der kleineren Übergänge waren mitten in der Nacht so übermüdet gewesen wie sie selbst; der Anblick zweier Frauen in einem teuren Automobil hatte sie nicht misstrauisch gemacht. Aura und Gillian waren durchgewinkt worden, obgleich sie sich bereits auf eine Verfolgungsjagd bis Wien eingestellt hatten. Stattdessen war das Glück ein einziges Mal auf ihrer Seite gewesen, vielleicht ein hohnlachender Trost jenes Schicksals, das sie in den letzten Stunden heimgesucht hatte.
    Jetzt streckte Aura langsam die Hand mit der Ampulle aus. Gians Gesicht erschien ihr verschwommen, so als trüge er eine gläserne Maske, unter der seine wahren Züge, auch sein wahrer Zustand nur vage zu erkennen waren. Aber er lebte, anders als Sylvette, und das gab ihm die Chance, die sie nicht mehr gehabt hatte.
    »Und wenn er uns wirklich dafür hasst?«, flüsterte sie über den reglosen Körper ihres Sohnes hinweg.
    Gillian streckte die offene Hand aus. »Lass mich es tun. Was ich auf dem Dach gesagt habe, gilt noch immer: Soll er mich hassen, nicht dich. Ich hab ihm genug Grund dafür gegeben, als ich mich jahrelang nicht um ihn gekümmert habe.«
    Kopfschüttelnd schob sie seine Finger mit ihrer Linken beiseite. Für sie fühlte es sich richtig an, dass sie diejenige war, die Gian den Sud verabreichte. Wenn es nur das war, was ihn retten

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