Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
zu.
»War es leicht, Nestor zu töten?« Sophia konnte ihren Schmerz jetzt nicht mehr überspielen. »Hast du ihn leiden lassen? Und wie groß waren damals deine Bedenken? Ich wette, du hast nicht eine Sekunde lang gezögert. Hast keinen Gedanken daran verschwendet, ob jemand um ihn weint und ihn vermisst und sich nichts auf der Welt mehr wünscht, als ihn zurückzubekommen. Das alles war dir scheißegal, oder, Gillian?«
Er schwankte ganz leicht am Rand der Tiefe, blickte in das gelbe Licht wie hypnotisiert.
»Bitte«, sagte Sylvette noch einmal, »tu das nicht!«
Aura stieß einen zornigen, verzweifelten Schrei aus. Und für die Dauer mehrerer Herzschläge vergaß sie die Konsequenzen, weil die Bürde einfach zu groß wurde. Sie rannte los, um Gillian festzuhalten.
»Du bleibst stehen!«, brüllte Sophia und stieß die Klinge tiefer in den Hals ihrer Geisel, einen Fingerbreit unter die Haut.
Sylvette entfuhr ein Seufzen, kaum lauter als das Säuseln des Windes über dem Glasdach.
Aber jemand anders, unten in der Passage, schrie: »Sylvette !«
Aura erkannte Axelle, ohne sie zu sehen. Sie musste unten im Erdgeschoss stehen und durch die beiden zerstörten Fenster heraufschauen.
Sylvette blickte hinab in die Öffnung. Ein warmherziges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, fast ein Ausdruck von Erlösung. Die Klinge steckte noch immer in ihrem Hals, nicht tief genug, um sie ernsthaft zu verletzen, aber Aura hatte bei diesem Anblick das Gefühl, etwas in ihr werde zerrissen zwischen
dem Leid ihrer Schwester und Gillians Schicksal. Sie war jetzt fast bei ihm.
»Bleib stehen!«, rief Sophia noch einmal.
Sylvette hob zaghaft eine Hand und winkte Axelle in der Tiefe zu. »Niemand außer mir trifft diese Entscheidung«, sagte sie ruhig. »Helft Gian! Er ... ist es wert, das hier für ihn zu tun.«
Und damit umklammerte sie Sophias Hand, stieß sich die Klinge tiefer in den Hals und zog ihre Gegnerin in derselben Bewegung mit sich nach vorne.
Gillian schrie auf. Aura sprang vor und bekam ihn zu fassen.
Sylvette ließ sich fallen. Ihre Hand hielt Sophia fest.
Aura riss Gillian nach hinten, fort vom Abgrund. Stürzte mit ihm auf die Stahlstrebe, klammerte sich an ihn.
Sylvette verschwand ohne einen Ton.
Sophia fiel brüllend mit ihr.
Dann waren Aura und Gillian allein auf dem Dach.
KAPITEL 58
Als sie das Erdgeschoss erreichten, kniete Axelle Octavian am Boden, wiegte Sylvettes Oberkörper im Schoß und redete leise auf sie ein.
Sekundenlang durchfuhr Aura bei diesem Anblick die Hoffnung, ihre Schwester wäre noch am Leben, hätte den Sturz auf wundersame Weise überstanden, und alles, was nötig war, waren Gutzureden und ein Arzt und ein paar Tage Erholung in einem der böhmischen Sanatorien.
Dann aber traf sie die Gewissheit mit solcher Endgültigkeit, dass ihre Knie nachgaben und Gillian sie die letzten zwei Schritte weit stützen musste, obgleich er selbst kaum noch laufen konnte. Sie sank neben Sylvette auf die Fliesen und sah aus dem Augenwinkel Sophias zerschmetterten Leichnam ein Stück weit entfernt liegen. Ihre Schwester blutete aus dem Stich am Hals und aus einer Kopfwunde, die nicht zu sehen war, weil Axelle sie so fest an ihren Oberkörper presste; sogar das Pflaster auf ihrer Wange war noch an Ort und Stelle. Da war nur ein Blutfaden, der aus Sylvettes Haaransatz über ihre Stirn zum Nasenrücken lief. Aura hatte das Gefühl, den Tropfen wegwischen zu müssen wie ein Insekt, das dort nichts zu suchen hatte, aber als sie bebend die Hand danach ausstreckte, blickte Axelle schlagartig auf, stieß ihren Arm fort und bedachte sie mit einem drohenden Blick.
»Dafür trägst du die Verantwortung«, fauchte sie. »Du bist schuld an ihrem Tod.«
»Hör auf damit«, raunte Gillian ihr zu.
»Aufhören?« Axelles Lachen bewegte sich am Rand der Hysterie,
aber sie schien dennoch genau zu wissen, was sie tat und sagte. »Ich hab euch gehört, da oben. Euch und Sophia und ... auch Sylvette. Sie hat sich für euch geopfert. Ausgerechnet für euch !«
Aura konnte ihr nicht in die Augen sehen, aber sie wollte Sylvette berühren und streicheln und ihr sagen, wie leid es ihr tat und dass dies alles hier so schrecklich falsch und ungerecht war. Sie respektierte Axelles Trauer und ihre Vorwürfe, aber sie würde sich nicht das Recht nehmen lassen, Abschied von ihrer Schwester zu nehmen.
Diesmal jedoch ließ Axelle zu, dass Aura mit der Hand über Sylvettes bleiche Wange strich und den Blutstropfen von ihrer
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