Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Geheimgang unter dem Meer benutzt; nicht ihr Lieblingsort, aber mit
einem Kleinkind im Arm war er ihr sicherer erschienen als ein schwankendes Ruderboot auf offener See.
»Ich bin eben erst angekommen.« Sein pechschwarzes Haar war fast schulterlang und vom Wind zerzaust; es verlieh ihm eine Wildheit, die sie überraschte. »Ich wollte dich sehen, und sie haben mir gesagt, dass ich dich hier finden würde. Dich und das Kind.«
Er kam näher und wirkte gesünder, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Sie fragte sich –
»Ich bin nicht selbst gerudert«, sagte er mit einem Lächeln, das ihn noch düsterer wirken ließ, weil es den Kontrast zwischen ihrer Erinnerung an ihn und seinem heutigen Äußeren betonte. »Dazu reicht es dann doch noch nicht. Einer der Diener hat mich hergebracht. Ich weiß nicht, wie er heißt.«
»Du bist lange nicht mehr hier gewesen.« Sie fand, dass seine Augen tiefer im Schatten lagen, als hätten sie sich in den Schädel zurückgezogen. Vielleicht waren auch nur die schwarzen Brauen dichter geworden. »Aber es hat sich nicht allzu viel verändert.«
Er blickte auf die Grabtafel mit dem Namen ihrer Mutter, dann auf das Kind in ihren Armen. »Ich finde schon.«
Sie holte tief Luft und nickte: »Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.« Besser geht, korrigierte sie sich in Gedanken, denn etwas an ihm stand in einem sonderbaren Gegensatz zu der Bedeutung des Wortes Gut. Die Dunkelheit, die ihn umgab, machte ihn attraktiver denn je – er hatte eine Menge von Aura geerbt, nicht nur das rabenschwarze Haar –, aber es war eine Attraktivität, der noch etwas anderes innewohnte, gleich unter der Oberfläche. Nicht Gefahr, aber etwas, das seinem Auftreten eine neue Verwegenheit verlieh. Sie stellte sich vor, dass eine Menge Frauen kurz den Atem anhielten, sobald er einen Raum betrat. Dabei hätte er doch kränklich und angeschlagen sein müssen. Nicht ... so.
»Du hast recht«, sagte sie, »die Dinge verändern sich, sogar hier draußen am Ende der Welt. Und du hast dich verändert.«
»Schon vor langer Zeit. Das stand in meinen Briefen.«
»Ich weiß. Ich hab sie gelesen.«
Er ließ sie einen Moment länger nicht aus den Augen, dann blickte er wieder das Kind an. »Darf ich?«
Für das kurze Schwanken ihrer Stimme hasste sie sich. »Du bist sein Onkel.«
Er nahm den kleinen Jonathan entgegen, ganz vorsichtig, ganz zärtlich, und wiegte ihn behutsam in den Armen.
»Ich würde gern mal deine Bilder sehen«, sagte sie, als das Schweigen zwischen ihnen zu Distanz zu werden drohte. »Aura hat viel davon erzählt.«
»Ich lasse sie herschicken.« Er sah das Kind mit einer Zuneigung an, die sie erstaunte. »Ich werde das Atelier in Paris auflösen, und irgendwo muss ich das Zeug ja lagern. Gib darauf acht, wenn du magst.«
»Und du selbst kommst nicht zurück?«
Gian schüttelte den Kopf. »Ich werde reisen. Genau wie Mutter es all die Jahre über getan hat. Etwas von der Welt sehen, ein paar Erfahrungen sammeln, anderen Menschen begegnen. Ich hab jetzt eine Menge Zeit.«
»Sie haben befürchtet, dass du es ihnen übel nimmst. Aber, mein Gott, Gian – sie haben dir das Leben gerettet.« Sie wurde jetzt lauter, zügelte sich aber sogleich, um Jonathan keine Angst einzujagen.
Gian streichelte sanft eine Wange des Kleinen. »Ich hätte gern seinen Vater kennengelernt.«
»Maximilian ist in Berlin. Aber er kommt jedes Wochenende her, manchmal öfter. Wenn du ein paar Tage bleibst –«
»Auf keinen Fall.«
Da verstand sie, warum er hier bei ihr im Mausoleum war. »Du verschwindest gleich wieder? Ohne Aura und Gillian zu –«
»Ich bin nur wegen dir gekommen«, unterbrach er sie. »Und auch wegen ihm.« Er schenkte Jonathan ein Lächeln und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. Dann reichte er ihn zurück an Tess, fast ein wenig überhastet, so als fürchtete er plötzlich, er könnte den Kleinen fallenlassen.
Tess nahm ihn ebenso eilig entgegen, weil ihre Mutterinstinkte noch immer jede andere Regung überwogen. Sie verspürte einen Anflug von Erleichterung, gab sich aber Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.
Ein gutes Mittel dagegen, fand sie, war Aggression. »Du kannst ihnen nicht schon wieder den Rücken kehren!«, platzte es aus ihr heraus. »Die beiden hängen mehr an dir, als du dir vorstellen kannst! Wenn sie früher Fehler gemacht haben, dann –«
»Es geht nicht um früher, das ist vorbei. Aber ich habe sie nicht darum gebeten, mir das hier anzutun.« Er
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