Die Amazonen
hineinbegab, den Weg zurückfand. So konnte auch niemand sagen, wie der Minotauros dort hauste und was mit den Kindern geschah, nach denen er verlangte: Sie blieben für immer verschwunden.
Zum dritten Mal sollten Eltern nun ihre Kinder hergeben. Sie verstanden den Sinn dieses Opfers nicht mehr, das aus einer Zeit vor ihrer eigenen Geburt herrührte. Damals stand es schlecht um Attika, Minos’ Sohn war hier ermordet worden. Daraufhin überzog Kreta das Land mit Krieg, selbst die Götter stellten sich auf Minos’ Seite und straften die Griechen mit Dürre, Seuchen, Missernten und Hungersnot. Die Menschen in Attika mussten dankbar sein für jeden Frieden, den der kretische König ihnen anbot, auch |53| wenn dieser Friede Opfer forderte. Eine Generation später war man zu diesen Opfern nicht mehr bereit. Den unaufgeklärten Mord betrachteten viele inzwischen als verjährt und weigerten sich, unschuldige Kinder in ein ungewisses, aber mit Gewissheit grausames Schicksal zu entlassen. Die Eltern standen kurz davor, gegen den König zu rebellieren und ihm den Gehorsam zu verweigern, als Theseus in ihre Mitte trat, sich ohne Los als einer der Vierzehn zur Verfügung stellte und versprach, die Tributzahlungen zu beenden und mit den Kindern wieder nach Athen zurückzukehren.
Sein Entschluss stand fest, ein Plan fehlte allerdings noch. Theseus traute sich zu, den Minotauros zu töten, war aber klug genug zu wissen, dass das Labyrinth die größere Gefahr darstellte. An welchem Punkt der Windungen er auch immer auf das Untier treffen würde, Theseus würde den Weg zurück nicht finden.
Doch es sollte sich eine Lösung auftun. Die Gruppe der Kinder wurde in Kreta feierlich empfangen und auf das Opfer vorbereitet. Die gesamte königliche Familie war anwesend, neben Minos und Pasiphäe auch die Töchter Phädra und Ariadne. Als Theseus erschien, war es für Ariadne Liebe auf den ersten Blick. Und er bemerkte diesen Blick nicht nur, sondern erwiderte ihn auch.
Beiden war klar, dass keine Zeit zum Annähern und Kennenlernen blieb. In einem heimlich von Ariadne arrangierten Treffen ging es sofort um das Wesentliche: die Liebe und die Rettung. Ariadnes Idee, den Rückweg zu sichern, war so einfach wie genial: Sie steckte Theseus ein Wollknäuel zu und wies ihn an, es abzuwickeln, während er sich im Labyrinth bewegte. Wenn er dem Faden folgte, käme er wieder zum Eingang zurück. Theseus dankte ihr so innig und zärtlich, wie sie es sich gewünscht hatte, und meinte es in dieser Nacht sehr aufrichtig. Er nahm Ariadne auch mit, als er nach der glücklich beendeten Mission mit den unversehrten Kindern nach Athen zurückkehrte. Aber schon während der Fahrt erkannte er, dass seine Liebe vor allem aus Angst und Dankbarkeit bestanden hatte und in dem Maße dahinschwand, |54| wie die beiden anderen Gefühle an Intensität verloren. Er blieb Ariadne dankbar, doch seine Gefühle waren schon bei einer anderen Frau. Deshalb schien es ihm wohl richtig und logisch, sie auf der Insel Naxos auszusetzen und alleine weiterzusegeln.
Seine Rückkehr wurde zur Sternstunde Athens. Das Volk feierte ihn als Retter, bald auch als Gründer und Erbauer der neuen Macht Athen. Er ließ einen Marktplatz anlegen und bot den Menschen mit dieser Agora ein wirtschaftliches, politisches und soziales Zentrum. Aber erst mit der Befestigung der Akropolis gab er den verschiedenen Gemeinden in Attika den entscheidenden Impuls, sich zu einem Staat mit Athen als Hauptstadt zusammenzuschließen. Dieser Gründungsakt wurde in Athen alljährlich gefeiert und dabei ausgiebig nacherzählt. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jeder Gast kannte die Geschichten, die mit der Rettung der attischen Kinder vor dem Minotauros begannen und mit der Gründung der Hauptstadt Athen endeten.
Auch Hippolyte hörte sie wieder und wieder. Mit den Jahren, die seither vergangen waren, hatte jedes Detail Zeit gehabt, perfekt in Szene gesetzt zu werden. Und so war Ariadnes Schwester Phädra vielleicht in eine Position geraten, die der Wirklichkeit nicht ganz entsprach. Da die Liebesgeschichte zwischen Theseus und Ariadne auf Naxos ein frühes und definitives Ende gefunden hatte, die Menschen aber andererseits die Rettungs-, Gründungs- und Erfolgsgeschichte Athens gern erotisch unterlegt hörten und erzählten, wurde die Rolle der schönen Prinzessin Phädra auf den Leib gedichtet. Sie wurde zur ersten Wahl des Volkes für seinen ebenso mutigen wie gut aussehenden König.
Entsprechend
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