Die Amazonen
wurde Hippolyte behandelt. Durchaus mit Respekt, kannte man doch die Leistungen der Amazonen vom Hörensagen, aber sie war und blieb eine Barbarin, die sich kein Athener als seine Königin vorstellen mochte.
Hippolyte gab sich über die Stimmung im Volk keiner Illusion hin. Ihre Gegenwart bestand in der Liebe zu Theseus und ihrem |55| Sohn Hippolytos, den sie nach Amazonenart erzog, indem sie ihm die Natur und deren Schutzgöttin Artemis nahebrachte. Ihre Zukunft war ungewiss, doch auch das beunruhigte sie nicht. Aber sie bangte um das Volk der Amazonen, das die Wahrheit nicht kannte, sondern nur Heras Intrige. Und in dieser Version war Hippolyte von den Griechen entführt worden. Das würden die Amazonen nicht hinnehmen. Sie würden kommen und eine Königin zurückfordern, die es nicht mehr gab, weil sie gegen das Amazonengesetz verstoßen hatte. Hippolyte sah eine Katastrophe voraus, die bereits nicht mehr aufzuhalten war.
|57| Der Rachezug nach Athen
Amazonen gegen Griechen
Die Amazonen hatten den Wintereinbruch abgewartet und sich dann unter der Führung ihrer zweiten Königin Orithia auf den langen Weg nach Athen begeben. Da sie ohne Schiffe unterwegs waren, blieb ihnen keine andere Wahl, als nordwärts zu reiten, den im Winter zugefrorenen Kimmerischen Bosporus, die Meerenge zwischen Schwarzem und Asowschen Meer, zu überqueren und von der heutigen Halbinsel Krim aus den Bogen nach Süden einzuschlagen. Der Winter verkürzte zwar den endlosen zu einem langen Weg, dafür waren das Vorwärtskommen, sich Verpflegen und selbst das Ausruhen bei Eis, Wind und Schnee kräftezehrend und mühsam. Orithia ließ die Amazonen langsam vorrücken. Mensch und Tier mussten geschont werden, denn die größte aller Anstrengungen erwartete sie am Ziel.
Es dauerte ein dreiviertel Jahr, bis die Amazonen die Stadt erreichten, in der ihre Königin, wie sie glaubten, als Gefangene lebte. Von Norden kommend fielen sie in die Stadt ein. Es war kein geordnetes Heer, das die Stadttore passierte; einzeln und in kleinen Gruppen kamen die Amazonen über verschiedene Zugänge in |58| die Stadt, sammelten und zerstreuten sich wieder, während der Zug der Ankommenden nicht abriss. Ihre goldverzierten Gürtel und Köcher blitzten in der Sonne auf, leise und mit knappen Gesten verständigten sie sich untereinander, ihre Aufmerksamkeit galt der Stadt und ihren potentiellen Verteidigern. So still und aufmerksam die Reiterinnen in ihrem langsamen, zielstrebigen Tun waren, so nervös gebärdeten sich ihre Pferde. Der Anblick von so viel Menschengemachtem irritierte sie, sie wollten weiter, wieder hinaus ins offene Gelände und durften nicht. Die Tiere, erfahren mit all den Unbilden der Natur, sahen zum ersten Mal Mauern, Häuser, Werkstätten, Marktstände und witterten eine Falle. Sie rochen andere Tiere, die sie aus dem Norden nicht kannten: Esel vor allem und Schafe, auf deren Geschrei und Geblöke die Pferde mit zornigem Wiehern antworteten, im Staub scharrten und Wolken davon aufwirbelten. Zwischen den Reiterinnen tänzelten unberittene, schneeweiße Pferde, die von der Unruhe ihrer Artgenossen angesteckt wild wurden, stiegen, panisch durch die Stadt galoppierten und von der eigenen Angst gehetzt in die Herde zurückrasten.
Der griechischen Stadtbevölkerung, die sich in ihre Häuser zurückgezogen hatte und mehr hören als sehen konnte, erschien es wie eine Invasion von Tieren. Wo war das eigene Heer, wo der König? Niemand verhinderte, dass die Amazonen einen Hügel gegenüber der Akropolis besetzten und hier ihr Lager errichteten. Dieser strategisch bedeutsame Hügel, von dem aus man die Stadt überblicken und den Aufgang zur Burg kontrollieren konnte, wurde mit der Besetzung durch die Amazonen zur historischen Stätte. Areopag oder Areshügel heißt seitdem diese Erhebung im Südwesten Athens und ein Teil seines nördlichen Abhangs, den die Amazonen Ares weihten, Amazoneion. Noch lange Zeit nach der Schlacht um eine verlorene Königin, die beiden Seiten schreckliche Verluste brachte, war das Amazoneion der Ort, zu dem die einheimische Bevölkerung kam, um ihre Verehrung für die Amazonen auszudrücken.
|59| Aber noch kam es nicht zum Kampf. Beide Seiten zögerten, beide hatten Angst. Die Griechen vor der Entfesselung der barbarischen Tötungsmaschinerie, die Amazonen vor einem Stellungskrieg, in dem sie auf ihren Vorteil schneller Aktionen auf großem Raum verzichten mussten. Es war eng in der Stadt, sie konnten nicht auf ihre
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