Die Amazonen
Hippolyte lebte, der Feldzug, die Kämpfe und Verluste nicht umsonst gewesen waren, dass nun endlich eine Entscheidung gefallen war – aber welche?
Liebestode
Hier stand ihre Königin, die erste Kriegerin, an Theseus’ Seite – auf Theseus’ Seite! Auf Seiten der Griechen! Für endlose Sekunden verweigerte sich das Staunen der Erkenntnis, gab die Hoffnung nicht auf, es handle sich um ein Friedensangebot, einen Tausch, einen Vertrag, zu dem Hippolyte gezwungen oder überredet worden war. Aber warum war sie dann bewaffnet, warum spannte sie jetzt den Bogen und fixierte dabei die Amazone, die ihr am nächsten stand? Sie zielte länger, als sie brauchte, oder kam es den |64| anderen nur so vor, verzögerte das Nichtverstehen die Zeit, die ohne ein Verständnis davon, was in ihr ablief, nicht vergehen wollte? Neben der bedrohten Amazone stand ihre Freundin Molpadia, die als Erste die Ungeheuerlichkeit verstand, dass die Königin der Amazonen sich gegen ihr eigenes Volk wandte und entschlossen war, es an der Seite des Feindes zu bekriegen. In tödlichem Zorn schleuderte Molpadia den Wurfspieß gegen Hippolyte, die ihn herankommen sehen, spüren musste. Aber sie wich nicht aus und deckte sich auch nicht. Der Speer war schneller als die Griechen, die mit vorgestreckten Schilden um das Leben der Königin rannten und es doch nicht mehr retten konnten. Dass Theseus noch im letzten Atemzug Hippolytes Molpadia tötete, rief keinerlei Reaktion bei den Amazonen hervor. Sie waren dabei, all ihre Gefühle zu töten, um Platz zu schaffen für das Unbegreifliche, das sich schließlich in ihnen ausbreitete. Die Königin hatte ihr Volk betrogen, die eigenen Gesetze gebrochen, gegen alle Staatsinteressen verstoßen. Der ganze Feldzug nach Athen, die Entbehrungen, der Kampf mit den vielen Toten und Verletzten – alles war von vornherein umsonst gewesen.
Wie ungebetene Zuschauer verfolgten die Griechen die Tragödie. Für die Männer wie für die Frauen war klar, dass keiner mehr zu den Waffen greifen würde. Und so ließ jede Seite den Gegner ziehen.
Das Heer der Amazonen war nicht geschlagen, aber vernichtet. Auf dem Hügel der Stadt hatte das Steppenvolk sein Leben gelassen. Waren es noch Amazonen, die kleine Gruppe von Frauen, die jetzt, von der eigenen Königin betrogen und ins Verderben gelockt, die Stadt verließ?
Wenn eine Amazonenkönigin sich verliebte, stellte sie die Identität ihres ganzen Volkes infrage. Dafür hatte Molpadia Hippolyte getötet. Trotzdem war der vorher undenkbare Verrat noch in der Welt, er bestand als Möglichkeit weiter, als Gefahr der Wiederholung, als Unsicherheit, die sich in der Gemeinschaft der Frauen ausbreiten und die Fraglosigkeit der gemeinsamen Interessen |65| infrage stellen konnte. Wenn die Einheit von individuellem und staatlichem Wollen nicht mehr garantiert war, gab es für den Amazonenstaat keine Legitimation mehr. Dass die existentielle Probe für ihren Staat von innen kommen würde, hatten die Amazonen niemals erwartet. Hippolytes Verrat war die bitterste Erfahrung ihrer Geschichte, die ohne eine Königin wie Orithia vor den Toren Athens zu Ende gegangen wäre.
Indem es ihr gelang, die Liebe Hippolytes zu dämonisieren und sie als Zwang darzustellen, den Theseus gegen sie ausübte, rückte sie die Täterin in die Nähe des Opfers. Eindringlich machte sie den Frauen deutlich, wie allein Hippolyte auf dem Schiff und in Griechenland gewesen war, warum sie in Athen ohne ihr Volk auch keine Amazone mehr sein konnte. Die Amazone existiere nicht als Einzelne, argumentierte Orithia, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Wo diese fehlte, war die Amazone verloren. Es gelang ihr, die Frauen wieder aufzurichten, ihnen den Glauben an die gemeinsame Stärke zurückzugeben, das Trauma in Aggression zu wenden, sie auf den Hass gegen die Griechen einzuschwören und neu zu motivieren. Es gelang ihr, aus dem inneren Feind der Unsicherheit einen äußeren zu machen – den äußersten, mit dem die Amazonen je zu tun haben würden. Die Königin schürte den Hass, der Funke sprang über, und es waren wieder Ares’ Töchter, die nach Themiskyra zurückkehrten, um sich zu regenerieren und auf den Vernichtungsschlag gegen die Griechen vorzubereiten.
Sie ahnten nicht, dass die Athener in großer Verehrung an sie dachten. Die Bürger der Stadt begruben die gefallenen Kriegerinnen nicht nur in allen Ehren entlang der Straße zwischen Museion und Areopag, sie machten die Amazonen sogar zu Beschützerinnen
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