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Die Amazonen

Titel: Die Amazonen
Autoren: Hedwig Appelt
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glücklich und voller Zuversicht. Ihre Tochter würde zu einer Amazonenkönigin heranwachsen, wie es vor ihr noch keine gegeben hatte. Ares’ Leidenschaft für den Krieg würde sie beflügeln, feindliches Terrain im Sturm zu erobern. Von Alexander hätte sie das Genie des Siegens geerbt, das den Bestand des Reiches für alle Zeiten sichern würde. Niemals mehr müssten die Amazonen unter der Führung ihrer Tochter solch demütigende Rückzüge wie aus Athen und Troja erdulden. Denn der einzige Herrscher, der ihnen ebenbürtig war – und jetzt lächelte Thalestris – war Alexander selbst, der Vater der neuen Königin, der sich die Weltherrschaft mit seiner Tochter teilen würde.
    In der Vorfreude auf eine unbeschwerte Zukunft gingen die Wochen nach der Rückkehr ins Land. Thalestris vermied jede kriegerische Auseinandersetzung, stattdessen schickte sie ihre Amazonen auf die Jagd, ließ sie mit den jungen Pferden arbeiten und die heranwachsenden Mädchen im Umgang mit den Waffen ausbilden. Und obwohl die Tage geruhsam dahinflossen, fühlte sich Thalestris müde und erschöpft. Sie schlief unruhig, und die |131| Geschichten, die Alexander ihr in den gemeinsamen Nächten erzählt hatte, kehrten als bizarre Traumbilder wieder. Sie sah ihre Tochter an den Kaukasus geschmiedet. In einem von vier Greifen getragenen Korb kam Alexander geflogen, durchtrennte ihre Ketten mit einem Schwerthieb und schwebte über schneebedeckte Berge davon, während ihr Kind, befreit, aber nun haltlos, die steile Felswand hinabstürzte, aufschlug und weiterfiel... Thalestris schrie nach Alexander, er solle umkehren, seine Tochter auffangen in seinem Korb, aber er hörte nicht. Sie wollte ihm nachlaufen, als ein Tiger sie ansprang und festhielt, schüttelte und schüttelte, bis sie schweißgebadet aufwachte und Meroe an ihrem Lager stehen sah.
    „Wach auf“! Noch einmal rüttelte Meroe an ihrem Arm. „Ein Überfall! Schnell! Deine Rüstung!“
    Mit einem Satz sprang Thalestris auf, ihr wurde schwindelig, sie griff nach Meroes Hand und fing sich wieder, legte Rüstung und Waffen an und lief nach draußen, wo sie ein Wirrwarr aus Stimmen, Stampfen, Schnauben und Klirren empfing. Die Amazonen saßen schon auf ihren Pferden, und Meroe führte im Laufschritt einen aufgeregt tänzelnden Rappen heran, reichte ihrer Königin den großen, goldglänzenden Bogen, Köcher, Speer und Streitaxt. Mit besorgtem Blick sah sie, wie Thalestris kurz ihre Stirn an den Pferdehals lehnte, bevor sie sich hinaufschwang, das Zeichen gab und davonstürmte.
    Meroes Pferd hatte Mühe, mit dem nachtschwarzen Rappen mitzuhalten, auf dem Thalestris dem Amazonenheer vorausgaloppierte. Sein kraftvoller Hufschlag schleuderte kleine Steine und Grasnarben hoch, die Meroe schmerzhaft ins Gesicht trafen, doch sie blieb der Königin auf den Fersen. Schutzbedürftig schien sie ihr heute, und Meroe hätte die Führung gern übernommen, wäre ihr Pferd schnell genug gewesen. Diese Bodensenke noch, dann waren die Feinde in Schussweite. Von hinten sah Meroe, wie Thalestris sich aufrichtete und anlegte. Der Erste stürzte vom Pferd. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte sie sich den |132| Angreifern zu, Sorge und Anspannung wichen dem vertrauten Gefühl der Kampflust, dem sie jetzt nachgab. Sie legte an, zielte, hörte immer wieder von Neuem entzückt ihren Pfeil schwirren wie ein riesiges geflügeltes Insekt, das seinen todbringenden Stachel in den Körper der Feinde bohrte und sie vom Pferd riss. Zwischen Schießen und neu Anlegen warf sie einen kurzen Blick neben sich. Ja, Thalestris kämpfte und siegte wie immer mit der ihr eigenen Kraft und Eleganz.
    Fast war der Kampf schon entschieden, einige der Männer flüchteten bereits aus der Schusslinie. Weder konnten es die Reiter mit der Treffsicherheit der Amazonen aufnehmen, noch ihre kleinen struppigen Steppenpferde das Tempo mithalten. Nicht mehr oft würde Thalestris mit dem Speer ausholen müssen. Aber noch einmal lehnte sie sich zurück und stieß ihn dem Nächsten in den Leib. Als sie ihre Waffe mit einem kräftigen Ruck herauszog, quoll ein dicker Blutbrei aus der Leiche. An der Speerspitze hatte sich eine Wulst aus Gedärmen verhakt, die sich schlangenhaft um den Schaft wanden und in der kalten Morgenluft dampften. Augenblicklich wurde Thalestris übel. Sie ließ den Speer fallen, umklammerte mit beiden Händen den Hals ihres weitergaloppierenden Pferdes und übergab sich. Keuchend lag sie auf dem Pferderücken, als der
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