Die Amazonen
einheimische Führer ausfindig machen und dann zu Pizarros Lager zurückkehren. Genau ein Jahr nach dem Aufbruch in Quito, am Weihnachtstag 1542, bestieg der kleine Spähtrupp das Boot und fuhr flussabwärts.
Obwohl die Mannschaft immer noch Gürtel und Schuhsohlen auskochen musste, um etwas Fett in die Suppe aus Kräutern zu bekommen, weckte allein das Tempo der Fahrt neue Hoffnung. Statt sich Meter für Meter durch den Dschungel zu arbeiten, legte das Schiff jetzt bis zu 200 Kilometer am Tag zurück. Schon bald erkannte Orellana, dass es unmöglich sein würde, umzukehren und auf dem Rückweg gegen die starke Strömung anzurudern, um zum vereinbarten Treffpunkt zu gelangen. Ihm blieben zwei Möglichkeiten: entweder zu Fuß den Weg zurück zu suchen, was ohne Verpflegung und ohne Führer ein aussichtsloses Unterfangen war, oder sich dem Riesenfluss weiter anzuvertrauen und darauf zu hoffen, dass er die San Pedro irgendwann in ein Meer schwemmen würde, mit Glück in den Atlantik.
Als sich Orellana für den Fluss entschied, war er sich über die Tragweite seiner Entscheidung völlig im Klaren. Noch niemand, mit Sicherheit kein Europäer, hatte den Amazonas je zuvor bis zur Mündung befahren. Die Reise würde sie tief in einen unbekannten Kontinent führen und keine Umkehr erlauben. Sollte irgendwo der Weg blockiert sein, hätte das ihren sicheren Tod zur Folge. |142| Und selbst wenn sie das Meer erreichten, drohte Orellana ein Prozess wegen Hochverrats, weil er Pizarro in einer aussichtslosen Lage zurückgelassen hatte.
Und dennoch: Der Fluss war die einzige Chance, die ihnen blieb. Um seinem Entschluss wenigstens den Anschein der Rechtmäßigkeit zu geben, bekundete Orellana offiziell seinen Gehorsam gegenüber Gonzalo Pizarro, bezeichnete sich als Kapitän seiner Majestät und unterstellte sämtliche Eroberungen, die ihm zufallen könnten, der spanischen Krone.
Ab diesem Moment war die Expedition eine andere geworden, mit einem neuen Ziel vor Augen: dem Meer. Orellana ließ ein zweites, seetüchtiges Schiff bauen, die Victoria, und setzte die Fahrt fort.
In den Wochen und Monaten, die auf dem Wasser vergingen, bekamen die Männer, die noch keine Vorstellung von den atemberaubenden Daten des Amazonas hatten, eine Ahnung vom wahren Reichtum dieses Landes. Stürme spülten gigantische Insekten, Fledermäuse und bunt schillernde Vögel an Bord. Im Wasser tummelten sich neben den über 2 500 Fischarten des Amazonas Schildkröten und die riesigen Arapaima-Fische, mehr als 3 Meter lang und 200 Kilogramm schwer. Dazwischen lauerten die großen, schwarzen Jacarés, Mohrenkaimane, den Piranhaschwärmen auf, während am Ufer über zehn Meter lange Anakondas wiederum die Jäger erwarteten. Und mitten im lautlosen Jagen und Fressen tauchten plötzlich zartrosa Flussdelfine auf und zeigten ihr unverkennbares Lächeln.
Wie sollte man all das Unerhörte, noch nie Gesehene, Unglaubliche zusammenfassen? Welche Worte finden, die den zu Hause Gebliebenen einen Eindruck von der Vielfalt, der Grausamkeit und Fruchtbarkeit des Dschungels geben könnten?
Im Juni 1542 legten die Schiffe in einem größeren indianischen Dorf an, wo die Mannschaft etwas sehr Merkwürdiges entdeckte. Mitten auf dem Dorfplatz stand eine große Holztafel, eine Schnitzarbeit. |143| Sie zeigte eine Stadt mit Häusern aus Stein, Mauern und einem Tor, das von zwei Türmen mit Fenstern und Türen flankiert war. Voller Überraschung über das „kultivierte“ Bild fragten die Ankömmlinge nach seiner Bedeutung und erhielten zur Antwort, dass die Dörfer der Amazonen so aussähen. Sein Volk, erklärte der Befragte weiter, wäre den Amazonen untertan und würde ihnen Tribut in Form von Papageienfedern leisten. Damit deckten sie die Dächer ihrer Häuser und Heiligtümer. Die Holztafel sollte jeden Dorfbewohner allzeit an seine Herrin erinnern, die über sein und das ganze Land der Amazonen gebieten würde.
Kurze Zeit später fanden die Spanier in einem weiteren großen Dorf eine ähnliche Tafel, wurden aber vertrieben, bevor sie Fragen stellen konnten.
Die San Pedro und das Geleitschiff Victoria gelangten an die Stelle, wo der Rio Negro in den Amazonas mündete. Der sich aus dem Bergland Guyanas langsam herunterwindende Rio Negro führte nahezu schwarzes Wasser, das sich mit dem schnellen, hellen Wasser des Amazonas nicht mischen wollte. Über eine Strecke von mehr als 30 Kilometern drängte aufgrund der unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten und
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