Die Amazonen
sich bei den „ausgestellten“ Frauen doch um „Wilde“, deren Nacktheit als Naturzustand in aller Unschuld betrachtet werden durfte. Solchermaßen „ethnologisiert“ war der voyeuristische Blick legitim. Und erhielt dazu wissenschaftlichen Segen: Zum einen waren die nackten Exoten der lebende Beweis für Darwins Evolutionstheorie oder zumindest das, was dafür gehalten wurde: Auf der untersten Entwicklungsstufe stand der Affe, dann kam der Primitive und schließlich, als Krone der Schöpfung, der Europäer. Zum anderen wurden immer wieder Wissenschaftler zum Besuch der Völkerausstellungen eingeladen mit der Bitte, coram publico ihren Beitrag zur Bewältigung der Angst vor dem unbekannten Fremden zu leisten.
Besonders die von Rudolf Virchow im Jahr 1870 gegründete Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte begleitete die Völkerschauen mit großem Interesse. Virchow selbst nahm die Darsteller anthropometrisch auf, das heißt: Er nahm Maß, untersuchte sie gründlich, erstellte Forschungsberichte und machte Hagenbeck Vorschläge für zukünftige Schaustellungen.
Die „Publikumsrenner“ aber waren und blieben neben den immer beliebten „Haremsszenen“ die „echten Menschenfresser“ und die „echten Amazonen“. Sie ganz besonders weckten Phantasien über die verführerisch-zerstörerische Frau, bedienten erotische Sehnsüchte ebenso wie wonnige Todesängste. Ein Reporter |156| berichtete, dass die Menge gespannt und atemlos, mit vorgestreckten Hälsen, auf Zehen stehend, voller Schauer dem ungewöhnlich fesselnden Schauspiel ihrer Darbietungen folgte.
Auf Einladung von Virchows Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gastierten zwischen dem 5. November und dem 9. Dezember 1892 die Amazonen von Dahomey in München. Es handelte sich um eine Gruppe von 40 Frauen aus dem Land der „Menschenopfer und Sklaverei“, wie es in einer Zeitungsanzeige hieß. Die Anthropologische Gesellschaft wurde in München von stadtbekannten Ärzten, Professoren und Generälen repräsentiert, die sich besonders für die Erforschung der vorgeschichtlichen Verhältnisse Bayerns und seiner Bewohner interessierten. Zu diesem Zweck wurden die Oberbayern mit fernen, exotischen Ethnien verglichen. Um bei den Studien zum „Dickbauchtypus in Bayern und auf Sumatra“, der „Schwanzbildung beim Menschen“ und anderen Kuriosa nicht auf trockene Lektüre angewiesen zu sein, holte sich die Gesellschaft nach Bedarf „Dinka-Neger“, „Hula-Hula-Tänzerinnen“ oder eben Amazonen zum Studium am lebenden Objekt.
Dem „Verein reisender Schausteller“ wurde der Auftrag erteilt, die Reise der Amazonen von Afrika nach Bayern zu organisieren. In München angekommen, mussten die jungen Frauen acht Mal am Tag im Theater am Gärtnerplatz öffentlich auftreten.
Zur ersten Aufführung war die gesamte Münchener Prominenz geladen. Über die Premiere am 5. November berichtete die örtliche Presse: „Vom Eingang des Saales her erklangen trommelartige Klänge und fremde Laute. Und jetzt betraten sie den Saal... Voran die gelbe mit drei Totenköpfen gezeichnete Fahne und zwei Weiber, die auf seltsam geformten flaschenartigen Holzinstrumenten trommelten. Eine jede Amazone trug ein Gewehr auf der rechten Schulter und einen Säbel in der linken Hand. Die Kleidung bestand aus kurzen, bis zum Knie reichenden rot und gelb gestreiften Röckchen, eine miederartige Weste umschloss den Oberleib. Außerdem trugen die Amazonen eine Menge Amulette |157| und anderen Schmuck. Nachdem die Amazonen mehrere Male das Podium im Kreise umschritten, trat ihre Oberkriegerin Gumma vor, und auf Kommando machte das Korps Front; auf ein weiteres Kommando nahm es Gewehr bei Fuß. Es begannen nun die verschiedenen Vorstellungen. Das erste war Bondih, ein religiöser Gesang vor Auszug ins Gefecht. Dann folgte Instandsetzung der Gewehre, hierauf ein nationaler Freudengesang und Tanz zu Ehren der Oberkriegerin Gumma; endlich Opfertänze mit Schlachtmessern... Nach der Vorstellung, in deren Rahmen verschiedene Tänze aufgeführt wurden, mischten sich die Amazonen laut schreiend unter das Publikum.“
Das Interesse der Münchener war überwältigend. Die Kassen wurden zeitweise wegen des großen Andrangs geschlossen, die Polizei musste eingreifen, weil die Abgewiesenen Krach schlugen, und es gab Sondervorstellungen für den Prinzregenten und natürlich die Anthropologische Gesellschaft, die auf den Einladungsschreiben an ihre
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