Die Amazonen
Gerechtigkeit und Güte seiner Majestät in ganz Guyana verbreiten ließ.
„Es ist wahrscheinlich“, schreibt er an seine Regentin Elisabeth I., „dass vor allem die Amazonen, in Hinblick auf ihr Geschlecht, bereit sein werden, Ihrer Majestät gegen die Spanier beizustehen.“
Raleighs Vorschlag, durch ein Bündnis zwischen der britischen Monarchin und den Amazonen die Spanier in die Knie zu zwingen, ist mehr als ein einzigartig origineller Beitrag in der Geschichte der Kolonisierung. Er ist Raleighs Rechtfertigung dafür, dass er das „jungfräuliche“ Guyana nicht betreten und für die englische Krone gewinnen konnte. Er macht aus seinem Versagen einen honorigen Verzicht, schließt für sich sowie seine Männer Gewalt gegen Frauen aus und gibt vor, durch diese Zurückhaltung seiner Königin Tür und Tor zu den Herzen – und Schätzen – der Amazonen geöffnet zu haben. Mit anderen Worten: Raleigh gewann Guyana für England, indem er es nicht eroberte.
Ob Elisabeth diesen Gedankengängen folgen mochte, ist nicht bekannt. Möglicherweise kam Raleighs Vorschlag ihren eigenen Plänen sehr nahe, denn bereits anlässlich der Truppenparade in Tilbury 1588 – in diesem Jahr wurde die spanische Armada vor Britanniens Küste vernichtet – erschien sie vor ihren Untertanen als Amazonenkönigin gekleidet.
Auch wenn es ein Anbiederungsversuch gewesen sein sollte, die wahren Amazonen hätten ihn sowieso als reine Maskerade durchschaut. Im Amazonenland stieß europäische Herrschaft an ihre Grenzen, ganz gleich, ob sie von einem König oder einer Königin repräsentiert wurde. Europas politische und patriarchale Macht zählte nicht, und auch als Handelsmacht war es für die |149| Amazonen nicht von Interesse. Mit dem Gold, das sie im Tausch gegen ihre grünen Steine erhielten, verfuhren sie nach Belieben und nicht nach den Gesetzen des Kapitalmarktes.
Sir Raleigh hätte sich gerne als einen Helden wie Theseus gesehen, der diplomatisch zwischen den eigenen Interessen und denen der Amazonen vermittelte. Als Galant, der politische Lösungen den gewalttätigen vorzieht und damit erfolgreicher agiert. Doch beide haben als ihr alter Ego immer noch die Gewalt als Spiegelbild der Politik neben sich: Theseus in Gestalt von Herakles, Sir Raleigh in den grausam wütenden spanischen Konquistadores.
Gegen diese männliche Gewalt haben die Amazonen sich seit jeher formiert. Ihr Land hielt seine Grenzen geschlossen, blieb immer unerreichbar, ließ sich nicht beschreiben, nicht betreten, nicht benutzen, nicht ausbeuten. So blieb auch das phantastische El Dorado inmitten der grünen Amazonashölle für europäische Goldsucher „Terra incognita“. Und bald war es eine anerkannte Tatsache, dass an den Amazonen kein Weg vorbeiführte.
Man brauchte sie, um ein Bild und einen Namen für die Gefahren zu haben, denen sich die europäischen Reisenden stellten. Gefahren, die Expeditionen ohne eigenes Verschulden scheitern ließen. So lenkten die Amazonen einerseits ab vom Unvermögen der Eroberer, andererseits befanden sich die Männer, die den starken Frauen vermeintlich begegnet waren, auf Augenhöhe mit der Macht des Mythos. Und damit fast in der Position eines Helden.
Das machte die Amazonen bei den Europäern so begehrt. Deshalb war es wichtig, dass die südamerikanischen Kriegerinnen ihren antiken Urmüttern so ähnlich wie möglich waren. Für diese Ähnlichkeit sorgten diejenigen, die selbst an den Amazonas reisten oder seine Geschichte aufschrieben, wie zum Beispiel Graf Pagan, der ganz unverhohlen jubelte: „Es sei Asien auf seine alten Amazonen nicht mehr so stolz! Amerika weiß sich ebenfalls desgleichen Vorzugs zu rühmen!“
|150| Wie sehr die Reisenden in die Neue Welt sich wünschten, dass die neu entdeckten Amazonen genauso gefährlich und ruhmreich wären wie die alten, zeigt die Theorie von André Thevet, der um das Jahr 1555 Südamerika bereiste. Auch ihn beschäftigten die Amazonen, und er vermutete, sie seien nach dem trojanischen Krieg nach Amerika gezogen. Diese These entsprach durchaus zeitgenössischem Denken, denn auch andere Autoren stellten die Frage: Wie soll Amerika denn bevölkert worden sein, wenn nicht durch Einwanderer aus Europa oder Afrika?
Der Jesuit José de Acosta ging dieser Frage systematisch nach, indem er von seiner Beobachtung, dass auch Indianer Menschen seien, darauf schloss, dass sie von Adam abstammten. Daraus folgerte er, dass es sich bei den Bewohnern der Neuen Welt um Immigranten
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