Die Ameisen
mehr als die Vorgesetzten selbst.«
»Weshalb ist er gegangen?«
»Er hat sich mit einem unserer stellvertretenden Direktoren gestritten, und zwar einer Sache wegen, in der er, wie ich zugeben muß, vollkommen recht hatte. Dieser stellvertretende Direktor hatte sein Büro durchsucht, worauf Edmond einen Anfall bekam. Als er merkte, daß alle zu dem anderen hielten, mußte er wohl oder übel gehen.«
»Aber Sie sagten doch, er hatte recht …«
»Mitunter bringt es mehr, sich feige auf die Seite von womöglich unsympathischen Leuten zu schlagen, die man kennt, als mutig einen vielleicht sogar sympathischen Unbekannten zu unterstützen. Edmond hatte keine Freunde hier. Er aß nicht mit uns, trank nicht mit uns, er schien stets mit den Gedanken woanders.«
»Warum gestehen Sie mir dann Ihre ›Feigheit‹? Das brauchten Sie mir doch alles nicht zu erzählen.«
»Hm, seitdem er tot ist, sage ich mir, daß wir uns doch recht mies verhalten haben. Sie sind sein Neffe, es erleichtert mich ein wenig, Ihnen das zu erzählen …«
Am hinteren Ende des engen Gangs erkennt man eine Festung aus Holz. Die Verbotene Stadt.
Dieses Bauwerk ist in Wirklichkeit ein Kiefernstumpf, um den herum die Kuppel errichtet worden ist. Der Stumpf dient als Herzstück und Wirbelsäule von Bel-o-kan. Als Herzstück, weil er das königliche Gemach und die kostbaren Nahrungs-mittelvorräte beherbergt. Als Wirbelsäule, weil die Stadt dank ihm Sturm und Regen trotzt.
Aus der Nähe betrachtet sind die Wände der Verbotenen Stadt mit komplizierten Motiven verziert, die wie barbarische Schriftzeichen aussehen. Das sind die Gänge, die einst von den ersten Bewohnern des Stumpfs gegraben wurden: den Termiten.
Als die erste Belo-kiu-kiuni vor fünftausend Jahren in der Gegend landete, war sie sofort mit ihnen aneinandergeraten.
Der Krieg hatte sehr lange gedauert, über tausend Jahre, aber schließlich hatten die Belokanerinnen gesiegt. Daraufhin hatten sie staunend eine »harte« Stadt entdeckt, eine Stadt mit holzfarbenen Gängen, die nie zusammenstürzten. Dieser Kiefernstumpf eröffnete ganz neue städtebauliche und architektonische Perspektiven.
Oben das flache, hochgelegene Plateau; unten die tiefen Wurzeln, die sich in der Erde verliefen. Das war ideal. Schon bald reichte der Stumpf jedoch nicht mehr, um die wachsende Bevölkerung der roten Ameisen zu schützen. Also hatte man unter der Erde in der Verlängerung der Wurzeln weiter-gegraben. Und man hatte kleine Zweige auf den geköpften Baum geschichtet, um die Spitze zu vergrößern.
Jetzt ist die Verbotene Stadt so gut wie verlassen. Außer der Königin und ihren Elitewachen lebt alle Welt in den Randgebieten.
Nr. 327 nähert sich dem Stumpf mit vorsichtigen, unregelmäßigen Schritten. Gleichmäßige Erschütterungen deuten auf die Anwesenheit einer Person hin, während ungleich-mäßige Töne als leichtes Geröll durchgehen können. Er kann nur hoffen, daß er keiner Soldatin begegnet. Er beginnt zu kriechen. Er ist nur noch zweihundert Kopf von der Verbotenen Stadt entfernt. Allmählich erkennt er die vielen Eingänge, die den Stumpf durchlöchern, genauer gesagt die Köpfe der »Pförtnerinnen«, die den Zugang verstopfen.
Infolge irgendeiner unbekannten genetischen Abartigkeit haben jene einen breiten, kreisrunden und flachen Kopf, der ihnen das Aussehen eines großen Nagels verleiht, der genau dem Umfang des Loches entspricht, das sie zu überwachen haben. Diese lebenden Türen haben ihre Wirksamkeit in der Vergangenheit bereits bewiesen. Während des »Erdbeerkrieges« vor siebenhundertneunzig Jahren fielen die gelben Ameisen in die Stadt ein. Alle überlebenden Belokanerinnen hatten sich in die Verbotene Stadt geflüchtet, und die Pförtnerinnen hatten zurückweichend sämtliche Zugänge hermetisch geschlossen.
Die gelben Ameisen hatten zwei Tage gebraucht, bis es ihnen gelang, diese Riegel zu sprengen. Die Pförtnerinnen verstopften nicht nur die Löcher, sondern bissen auch mit ihren langen Mandibeln zu. Die gelben Ameisen formierten sich zu Hundertschaften, um gegen eine einzige Pförtnerin zu kämpfen. Schließlich gelang es ihnen, das Chitin der Köpfe zu durchbohren und ins Innere zu gelangen. Aber das Opfer der
»lebenden Türen« war nicht vergebens. Die anderen föderierten Städte hatten Zeit gehabt. Hilfstruppen aufzustellen, und einige Stunden später war die Stadt befreit.
Nr. 327 hat gewiß nicht die Absicht, sich allein mit einer Pförtnerin anzulegen,
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