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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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mit der Eisenbahn zurücklegen.« Allein der Gedanke an einen warmen Sitzplatz ließ Wanda trotz zittriger Knie schneller gehen.
    Eva lachte kurz auf. »Jetzt den Umweg zum Bahnhof nehmen? Und ewig warten, bis der nächste Zug kommt? Nein, darauf habe ich nun wirklich keine Lust.« Sie senkte den Kopf und überholte Wanda. »Lass uns zügig weitergehen. Ich habe keine Lust, einen von meinen Geschwistern zu treffen und erklären zu müssen, warum wir zu Fuß unterwegs sind. Die würden doch sofort glauben, für eine Zugfahrt hätte das Geld nicht mehr gereicht.« Sie zog ihren Schal noch höher. Wanda blieb nichts anderes übrig, als stumm hinter Eva herzutrotten, konnte aber nicht umhin, sich unter niedergeschlagenen Lidern Evas Geburtsort genauer anzuschauen. Mehrere Dutzend Häuser schmiegten sich in einer Talebene aneinander. Nicht nur die Dächer waren mit Schieferschindeln gedeckt, vielmehr verkleidete Schiefer in verschiedenen Farbnuancen auch die Hauswände, die in der Sonne silbergrau glitzerten.
    »Wie wunderschön!« Wanda zeigte auf ein Haus, dessenVorderseite mit einem besonders kunstvollen Schiefermosaik verkleidet war. Als sie hinter einem der Fenster einen Kopf auftauchen sah, schaute sie hastig weg. Doch schon ein paar Meter weiter brach sie in neuerliche Begeisterung aus: Eine Blumenranke, unterbrochen von einem rautenförmigen Muster, zierte eine Hauswand, die natürliche Färbung des Schiefers war dabei so ausgeklügelt eingesetzt worden, dass die Verzierung fast einen dreidimensionalen Charakter hatte.
    »Das alles wirkt so … heimelig!« Nicht nur die Lauschaer, sondern auch die Steinacher schienen mit einer künstlerischen Ader gesegnet zu sein. Wanda nahm sich vor, im Frühjahr nach der Schneeschmelze gemeinsam mit Richard Steinach erneut einen Besuch abzustatten.
    Kaum hatten sie die letzten Häuser des Dorfes passiert, schien sich Eva wieder aufzurichten. »Wie heimelig «, äffte sie Wanda nach. Sie zerrte sich den Schal vom Kopf. »So kann nur eine daherreden, die noch nie in ihrem Leben gehungert und gefroren hat! Glaube mir, wenn du meine Kindheit gehabt hättest, dann …« Der bittere Zug um ihren Mund grub sich noch tiefer ein.
    Auf einmal kam sich Wanda töricht vor. Sie hakte sich bei Eva unter, deren Rücken sich sofort in einer Art versteifte, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihr die Berührung unangenehm war. Doch Wanda tat so, als habe sie nichts bemerkt. Mit ihrer freien Hand schob sie Evas Schal, der ihr über die Schulter zu rutschen drohte, wieder zurecht.
    »Warum erzählst du mir nicht, wie es damals war?«, fragte sie sanft.
    »Damit du dich lustig über mich machen kannst?« Eva warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
    »Das tu ich nicht, ich schwör’s.«
    Doch Eva presste ihre Lippen nur noch fester aufeinander. Sie gingen schweigend weiter.
    Ein paar Minuten später, als Wanda schon nicht mehr daran glaubte, begann Eva doch noch zu erzählen: von ihren sieben Geschwistern und vom Vater, der im Schieferbruch arbeitete wie die meisten Männer im Dorf. Von Tausenden von Griffeln, die Woche für Woche in ihrer kleinen Hütte geschliffen und verpackt werden mussten. »Tag für Tag, bis in die Nacht. Wir waren kaum aus der Schule daheim, schon mussten wir uns an den Tisch setzen. Wie hat mir nach ein paar Stunden der Rücken weh getan! Aber der Vater wollte davon nichts hören, sondern hat geschimpft, wenn einer von uns vor Schmerzen anfing zu weinen. Noch heute, wenn ich das Geräusch einer Schleifmaschine höre, wird mir ganz anders!« Sie schüttelte sich. »Überall hat sich der Schieferstaub abgesetzt, in den Haaren, auf unserer Haut, in unseren Lumpen – Kleider konnte man die Fetzen ja nicht nennen. Dieser elende Dreck! Gesund war der auch nicht!« Ohne große innere Anteilnahme erzählte Eva von den Geschwistern, die starben, weil der Staub sich in ihre Lungen gefressen hatte. » Für jedes, das kommt, geht eines – so ist das eben, hat die Mutter stets gesagt. Aber unser Haus war immer voll, und ich war die Kindsmagd, die die Kinderpopos abwischen musste.« Evas Lachen klang hart. »Und als ich selbst verheiratet war, hat’s nicht einmal zu einem eigenen Kind gereicht.«
    Wanda schwieg hilflos. Marie hatte ihr erzählt, dass Eva unter ihrer Unfruchtbarkeit sehr gelitten hatte.
    »Trotzdem – ich hätte mit keinem von meinen Geschwistern tauschen wollen. Ich habe Glück gehabt, dass mir der Sebastian über den Weg gelaufen ist! Auch wenn nachher alles

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