Die Amerikanerin
Krüppel ihr denn helfen könne. Und wobei. Gerade diesen Moment suchte sich Thomas aus, um nach einem kurzen Aufenthalt in seiner Werkstatt die Treppe hochzupoltern. Beim Anblick seines Bruders holte er erst einmal die Schnapsflasche aus dem Schrank. Und so stießen sie kurz darauf zu viert mit einer kräuterbitteren Flüssigkeit an, die den ganzen Weg von Wandas Mund die Speiseröhre hinab fürchterlich brannte. Mit einem warmen Gefühl im Bauch erklärte sie Michel dann, dass er ihr bei ihren »Recherchen« helfen könne. Wie erwartet waren die anderen von dem gewichtigen Fremdwort ordentlich beeindruckt. Wanda nutzte diesen Moment, um Michel weiter zu erläutern, dass ihr dabei eine Übersicht aller Techniken vorschwebe, die Thomas beherrschte. Des Weiteren sollten sie alle Musterteile hervorkramen, die im Laufe der Jahrzehnte zusammengekommen waren und die in irgendwelchen Schränken im Haus Schimmel ansetzten – eine Bestandsaufnahme sozusagen. Als Eva anbot, diese Aufgabe zu übernehmen, weil sie am besten wusste, wo alles verstaut war, machte Wandas Herz einen kleinen Hüpfer. Ein erster Erfolg!
Bevor ihr Vater einen seiner pessimistischen Einwände vorbringen konnte, der den aufkeimenden Samen Hoffnung sofort vernichtet hätte, wiederholte Wanda Richards Worte: nämlich dass die Lauschaer Glastechniken es allemal mit denen der venezianischen Glasbläser aufnehmen konnten! Und dass es durchaus Sinn machte, auf altes Kunsthandwerk zurückzugreifen, wenn man Neues schaffen wollte. Noch während ihrer Ausführungen schleppte Eva, die unbemerkt aus der Küche gehuscht war, die ersten Stücke an: einen Kelch aus Milchglas, mit Emailfarben bemalt, entstanden um 1900. Eine tiefe Schale aus durchsichtigem Glas, in das bunte Fäden eingearbeitet waren, aus derselben Zeit. Eine wesentlich ältere Schale mit dicken Warzen wie bei einer Kröte.
Nicht jedes Stück gefiel Wanda, dennoch bemühte sie sich, außerordentlich begeistert zu wirken. Ihr Enthusiasmus war ansteckend: Plötzlich erinnerte sich Thomas an Tischschmuck, den er vor vielen Jahren für ein Hotel in Suhl hergestellt hatte. Er lief in die Werkstatt und erschien wenige Minuten später mit zwei aus verschiedenen Glasteilen aufwendig zusammengesetzten Tafelaufsätzen. Und Wanda war ehrlich fasziniert: Glaskunst auf höchstem Niveau nannte sie die Stücke, und die beiden Brüder strahlten. Plötzlich wollte jeder den andern übertrumpfen mit seinem Wissen, wo noch welche Glaswaren stecken könnten, ständig rannten Eva oder Thomas aus der Küche, um kurze Zeit später mit einem weiteren alten Schatz zurückzukommen, bis der Küchentisch übervoll war mit Gläsern aller Art. Wanda hätte heulen können vor lauter Begeisterung.
»Wenn ich nur wüsste, wo die Flakons sind, die wir damals für den französischen Parfumeur machen mussten!«, grübelte Thomas am Ende und sagte, dass diese einst Wandas Mutter so gut gefallen hatten.
An jenem Abend war Wanda so spät nach Hause gekommen, dass Johanna ihr eine bitterböse Standpauke hielt und drohte, sich bei ihrer Mutter in New York zu beschweren. »Wir sind doch kein Hotel, wo das gnädige Fräulein kommen und gehen kann, wie es will«, hatte sie geschimpft. Als Wanda in die übermüdeten Augen ihrer Tante schaute, die ihretwegen hatte aufbleiben müssen, hatte sie eine heiße Welle schlechten Gewissens überflutet. Und sie hatte sich vorgenommen, zukünftig nicht mehr so rücksichtslos zu sein.
Trotzdem war der Abend im Oberland den Ärger mit Johanna wert gewesen, ging es Wanda nun durch den Kopf, während sich die Straße um eine weitere Kurve wand. Zum ersten Mal hatte sich so etwas wie Aufbruchsstimmung unter den Heimers verbreitet, wozu auch der alte Wilhelmseinen Teil beitrug: »Du tätest gut daran, hin und wieder auf deine Tochter zu hören. Das Mädchen hat nicht nur die Heimer’sche Schläue geerbt, sondern auch noch den Geschäftssinn von Ruth, dem Luder! Dass Wanda hierher zurückgefunden hat, ist ein Geschenk des Himmels«, hatte er Thomas zwischen zwei Hustenanfällen gepredigt. Wanda, die gerade dabei war, im Hausflur ihre Jacke zuzuknöpfen, hatte leider nicht verstehen können, was ihr Vater daraufhin erwiderte.
Es war richtig, an diesem »familiären« Abend nicht gleich das Thema einer möglichen Zusammenarbeit mit Richard anzusprechen, sinnierte sie, während sie hinter einer der nächsten Kurven Häuser erkannte: Steinach, Gott sei Dank!
»Vielleicht sollten wir den Rest des Weges doch
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