Die Amerikanerin
würde immer eine sein!
»Alles wird gut, vertrau mir. Ich werde dir alles von Lauscha erzählen, alles, was du wissen willst. Ich werde dir von deinem Vater Thomas erzählen, von seinen Brüdern und von deinem Großvater. Wenn du willst, werde ich jedes einzelne Glasteil beschreiben, das je in ihrer Werkstatt entstanden ist. Du wirst deine Wurzeln fühlen können, das verspreche ich dir.« Beschwörend schüttelte Marie Wandas Schultern.
»Und was soll das bringen? Was hat das alles mit mir, mit meinem Leben hier zu tun?«
Wandas Skepsis bestärkte Marie noch in ihrem Vorsatz. Ja, sie würde Wanda etwas Eigenes geben – das war das Mindeste, was sie für ihre Nichte tun konnte.
»Sieh es doch einmal so … Steven wird immer dein Vaterbleiben. Aber heute hast du noch einen Vater dazubekommen!«
»Wunderbar! Wenn ich solch eine tolle Gewinnerin bin, warum fühle ich mich dann so platt gewalzt, als hätte mich eine Trambahn überfahren?« Wanda zog ein Gesicht, über das jedoch schon ein kleines, erstes Lächeln huschte.
Bis auf die Knochen durchnässt stiegen sie kurz darauf gemeinsam die Feuerleiter hinunter.
Noch in derselben Nacht – nachdem sie Wanda ins Bett gebracht und abgewartet hatte, bis sie schlief – griff Marie zum Zeichenblock. Als sie einen ihrer mitgebrachten Griffel hervorgekramt hatte und dieser vertraut wie eh und je in ihrer rechten Hand lag, hätte sie vor Erleichterung heulen können. Wie hatte sie vergessen können, wie gut es tat, vor einem jungfräulich weißen Blatt Papier zu sitzen!
Sie malte die halbe Nacht. Das meiste waren nutzlose Skizzen: Balltänzer, Notenschlüssel, die Blumengirlanden, mit denen die Tische geschmückt waren – nichts, was man für die Bemalung von Christbaumkugeln hätte verwenden können. Marie war das gleichgültig. Allein für das Gefühl, dass der Bleistift in ihrer Hand wieder aus eigenem Willen über den Zeichenblock lief, hätte sie am liebsten zehn Dankesgebete ausgestoßen. Sie konnte es noch! Sie hatte ihre Gabe nicht verloren!
Sie malte und strichelte, korrigierte und verbesserte. Plötzlich begannen die Umrisse der New Yorker Hochhäuser vor ihren Augen zu entstehen, dunkel, mit harten Konturen. Und dahinter Straßenlaternen, beleuchtete Fenster, ein Mond, in dessen kaltem Lichtkegel die Silhouette der Brooklyn Bridge erschien.
Draußen dämmerte es schon, als Marie den Stift endlich aus der Hand legte. Kein Blatt mehr übrig! Der Block war vom vielen Umblättern und Zurechtschieben weich undlappig geworden, seine Bögen an manchen Stellen von Maries Griffel zerfurcht, an anderen geschwärzt. Fiebrig sortierte sie die Spreu vom Weizen.
Es war ein Wunder geschehen! Unter allen Kritzeleien befanden sich mindestens zehn, vielleicht auch zwölf brauchbare Skizzen für eine neue Christbaumkugelkollektion! Mit ein bisschen Arbeit …
Maries Lachen verflog schon im nächsten Moment: Wie konnte sie so glücklich sein, wenn sich nur ein paar Türen weiter Wanda vermutlich die Augen aus dem Kopf heulte.
Aber lagen Freud und Leid nicht immer sehr nah beieinander? So wie Tag und Nacht, hell und dunkel …
… »Night & Day-Collection« – wenn es ihr gelingen sollte, die Entwürfe noch auszuarbeiten, wäre das der richtige Name. Gleich morgen würde sie sich an die Feinarbeiten machen. Sie hatte keine Angst, dass sie daran scheitern könnte. Nun, da der Anfang wieder gemacht war, fühlte sie ihre Kreativität wie Lava in einem erwachten Vulkan an die Oberfläche drängen.
Marie blätterte ihre Zeichnungen erneut durch. Die Ansicht mit den Wolkenkratzern und dem Nachthimmel darüber gefiel ihr besonders gut. Auch der tief hängende Mond über dem Hafen war ziemlich gelungen. Wenn man die Kugel zuvor versilbern würde, dann die Konturen zuerst mit weißer Emailfarbe nachfahren und deren Inneres mit Glitzerstaub verzieren würde … ja, das müsste gut aussehen!
Emailfarbe und Glitzerstaub … Sie hatte kaum zu Ende gedacht, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel: Mit ihren »Night & Day«-Entwürfen hatte sie sich wieder ihren allerersten Christbaumkugeln angenähert! Damals, vor gut achtzehn Jahren, als sie heimlich begonnen hatte, Glaskugeln zu blasen, standen ihr nur schwarze und weiße Emailfarbe für die Bemalung zur Verfügung, andere Farben gab es in der Werkstatt ihres Vaters nicht. Das Glitzerpulver hatte sie hergestellt, indem sie bei Wilhelm Heimer Glasscherben erbettelte, diesie dann zu Hause zu feinem Staub zerrieb. Mehr
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