Die Amerikanerin
Wind zerrte am dünnen Stoff ihres Ballkleids, ihr rechter Fuß lag in einer undefinierbaren Pfütze, aber sie schien nichts davon wahrzunehmen.
Bedrückt schaute Marie sich um. Dieser hässliche Ort sollte Wandas Lieblingsplatz sein? Wie einsam musste jemand sein, um sich hier wohl zu fühlen?
Nachdem sie Wanda entdeckt hatten, hatte Marie Harold weggeschickt. Sie wollte allein mit ihrer Nichte reden.
Wanda schaute auf. »Mein Vater ein Schläger – ist das wahr?« Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Marie spürte Panik in sich hochsteigen. Ich kann das nicht, schrie alles in ihr.
»Die Wahrheit ist vermutlich für jeden Menschen etwas anderes«, sagte sie. Wie hohl sich das anhörte! Schaudernd erinnerte sie sich an das Ende der Auseinandersetzung zwischen Ruth und Wanda.
»Du willst wissen, warum ich dir nichts von deinem Vater , wie du ihn nennst, erzählt habe?« Ruth hatte ihre Tochter an den Armen gepackt, so dass ihre Gesichter nur noch wenige Handbreit voneinander entfernt waren. Hysterie und Verzweiflung hatten aus ihren feinen Gesichtszügen ein Schlachtfeld gemacht. »Ich sage es dir: weil er dich als Säugling totgeschlagen hätte, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre! Das ist die Wahrheit über deinen Vater.«
Wanda war zusammengesunken, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen.
»Das glaube ich dir nicht. Du bist eine Lügnerin!«, hatte sie geflüstert und sich im Davonrennen die Ohren zugehalten.
»Ruth und Thomas waren damals noch jung, zu jung, um zu wissen, dass sie nicht zusammenpassten«, begann Marie nun. Wanda lachte müde auf. »Achtzehn Jahre sage ich zu jemandem Vater, der gar nicht mein Vater ist – das ist die Wahrheit!« Sie begann zu weinen. »Das darf doch alles nicht wahr sein! Ich …«
Als Marie Wanda einen Arm um die Schultern legte, befürchtete sie, von ihr weggestoßen zu werden, doch Wanda schlüpfte wie ein ängstliches Küken noch näher an sie heran.
»Ich weiß nicht mehr weiter … Marie, hilf mir!«
Und dann erzählte Marie von Lauscha. Wandas Kopf lag an ihrer Brust, und das Abendkleid wurde nass von ihren Tränen. Anfangs stockend, da die Erinnerung an manchen Stellen bereits ziemlich eingerostet war, kehrte schließlich mit jedem Satz ein weiteres Stück von damals zurück.
Sie erzählte von den drei Steinmann-Schwestern, die sojung ihre Eltern verloren hatten. Mittellos waren sie gewesen, hatten nichts gewusst vom Leben, nichts gehabt außer ihren Träumen. Johanna träumte von der großen, weiten Welt. Und so war sie nach Sonneberg gegangen, um bei einem der Verleger für Glaskunst zu arbeiten. Nur zögernd berichtete Marie, dass ihre Schwester von diesem Mann brutal vergewaltigt worden war. Wanda richtete sich auf, wollte etwas fragen, doch Marie winkte ab. Die Zeiten waren eben sehr schwer gewesen für drei Mädchen ohne Eltern. Dann erzählte sie von Ruth und wie sehr sie in Thomas Heimer verliebt gewesen war, den Sohn eines der reichsten Glasbläser im Dorf. Zu der Zeit waren die drei Schwestern als Arbeitsmädchen bei Wilhelm Heimer in der großen Werkstatt angestellt gewesen, und dort hatte Ruth Thomas zum ersten Mal getroffen. Sie waren glücklich gewesen, wirklich, zumindest am Anfang, und die Hochzeit ein großes Fest.
»Dann kamst du. Dass aus dem heißersehnten Sohn eine Tochter geworden war, hat Thomas deiner Mutter nicht verzeihen können. So sind manche Männer nun einmal! Zu viel Alkohol … Die Ehe ging rapide den Bach hinunter. Dann kam die Nacht, in der eine völlig verängstigte Ruth schließlich mit Sack und Pack und ihrer Tochter auf dem Arm vor unserem Elternhaus stand. Deine Mutter ist eine sehr stolze Frau. Sie hat nie darüber geredet, woran ihre Ehe letztendlich gescheitert war. Hat ihren Kummer in sich hineingefressen. Als Steven in Ruths Leben trat, war er der Prinz, von dem sie schon als junges Mädchen geträumt hatte. Du warst gerade ein Jahr alt, als er euch beide mit nach Amerika nahm. Er hat gefälschte Papiere für euch besorgt, Ruth reiste als ›Freifrau von Lausche‹ in die neue Heimat. Zwei Jahre später hat Thomas Heimer endlich in die Scheidung eingewilligt.« Marie seufzte.
Wanda presste stumm die Lippen zusammen. Sie schien verwirrt, als könne sie das, was Marie erzählt hatte, nicht mitihrer Mutter, der eleganten und stets so besonnen wirkenden New Yorker Society-Dame, in Verbindung bringen.
»Es war ein Fehler von Ruth, dass sie dir nie von ihm erzählt hat. Thomas ist auf seine Art
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