Die Amerikanerin
zwischen Mann und Frau wäre!
Sie konnte nur hoffen, dass Franco bald den ersten Schritt machte.
Klein-Italien war an diesem Tag so herausgeputzt, als wolle es seiner großen Schwester jenseits des Teiches Konkurrenz machen: Quer über die Straßen waren Tausende bunter Wimpel von Haus zu Haus gespannt, an jeder Ecke standen Grüppchen von Musikanten und übten für ihren großen Auftritt während des Festumzugs. Links und rechts entlang der Mulberry Street hatten sich Schaulustige versammelt. Kinderhüpften immer wieder aufgeregt auf die abgesperrte Straße und wurden gleich darauf von ihren Müttern zurückgeholt. Madonna mia, nicht auszumalen, wenn ein Bambino unter eines der geschmückten Fuhrwerke kam!
Für eine Weile ließen sich Marie und Franco im Strom der Menge treiben, wie Schmetterlinge nippten sie mal an dieser, mal an jener Blüte. Doch der Jubel um sie herum und das Gedränge zerrten bald an Maries Nerven, und hinter ihren Schläfen begann es unangenehm zu pochen. Wenn sie wenigstens ein paar Stunden Schlaf gehabt hätte! Wie viel lieber wäre sie mit Franco allein gewesen und hätte ihm alles über den Abend und ihre Nacht am Zeichenblock erzählt!
Am Nachmittag nahmen sie in einem der zahlreichen Ristorantes einen späten Lunch zu sich. Franco bestellte eine riesige Portion Spaghetti mit Fleischsoße, dazu Wein, der in den Ländereien seiner Familie angebaut worden war. Der gleißenden Sonne entronnen, verschwand Maries Kopfweh, und sie fühlte sich wieder besser. Sie prostete Franco zu.
Immer wieder kamen Leute zu ihnen an den Tisch, die Franco kannten und die seine schöne Begleiterin kennenlernen wollten. Lachend schüttelte Marie jede dargebotene Hand. Alle waren so zuvorkommend zu ihr, so …, ja, beinahe ehrerbietig, dass Marie unbedingt etwas von dieser Freundlichkeit zurückgeben wollte. Und so fing sie zu Francos Erstaunen und zur Freude der Tischgäste an, sich mit ihnen mal auf Englisch, mal versetzt mit ein paar italienischen Brocken zu unterhalten.
»Woher kannst du meine Sprache? Und warum hast du mir bisher nichts davon erzählt? Hast du womöglich einen Verehrer, von dem ich nichts weiß?«, argwöhnte Franco.
»Wenn’s so wäre, würde ich dir eifersüchtigem Kerl nichts davon erzählen«, neckte Marie ihn. Lachend klärte sie ihn dann darüber auf, dass schon vor zwanzig Jahren Arbeiter aus Italien nach Lauscha gekommen waren, um beim Bau derEisenbahnlinie zu helfen. »Zwei junge Burschen sind damals geblieben und haben Lauschaer Mädchen geheiratet. Lugiana, die Tochter einer der beiden Familien, kommt zweimal die Woche zu uns nach Hause, um beim Reinemachen zu helfen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Im Laufe der Jahre habe ich halt das eine oder andere Wort Italienisch aufgeschnappt. Aber ehrlich gesagt, wollte ich mich mit den paar Brocken nicht bei dir lächerlich machen.«
»Von wegen paar Brocken – du sprichst ziemlich gut!« Franco schien ein wenig verärgert, dass sie ihre Sprachkenntnisse vor ihm geheim gehalten hatte.
»Die Signorina ist nicht nur schön, sie ist auch noch klug! Solche Frauen sind seltener zu finden als Trüffel im lombardischen Herbst!« Stefano, der Patrone, warf Franco einen anerkennenden Blick zu.
»Darf ich nachschenken?«
Marie schüttelte den Kopf. »Kein drittes Glas! Ich weiß, dass es De-Lucca-Wein ist, den ich verschmähe, aber ich möchte schließlich nicht betrunken werden!« Ein bisschen schwummrig war ihr schon jetzt. Doch bevor sie etwas zu Franco sagen konnte, kam schon der Nächste an ihren Tisch. Im Gegensatz zu den anderen schlug er – ein Wirt aus einem der Nachbarhäuser – einen eher reservierten Ton an, als er leise auf Franco einzusprechen begann. Francos Miene verdüsterte sich merklich. Er erwiderte etwas in so schnellem Italienisch, dass Marie kein einziges Wort verstand. Vergeblich wartete sie darauf, dass er ihr den Wortlaut seines Gesprächs wiedergab, wie er es zuvor immer getan hatte.
Sie runzelte die Stirn. Dieses kalte Glühen in Francos Augen hatte sie noch nie gesehen.
»Gibt es in diesem Viertel auch jemanden, den du nicht kennst?«, fragte sie leicht gereizt, als der Mann wieder gegangen war. Die Mixtur aus Zigarettenrauch, Knoblauch und anderen Essensdüften ließ plötzlich einen Ekel in ihr aufsteigen.
Franco zog ein Gesicht. »Es ist umgekehrt: Die Menschen hier kennen alle mich beziehungsweise meinen Vater. Ich habe Mühe, mich an jedes Gesicht und an die Namen zu erinnern.«
Er redete
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