Die Amerikanerin
Material war nicht vorhanden, ihre Kugeln hatten allein von den starken Kontrasten zwischen hell und dunkel gelebt.
Marie glaubte, in dieser Übereinstimmung eine tiefere Bedeutung zu erkennen: War es womöglich so, dass sie durch ihren Entschluss, Wanda ihre Herkunft nahezubringen, die eigenen Wurzeln wiedergefunden hatte?
15
Nach dem heftigen Gewitter in der Nacht war der nächste Morgen umso klarer. Als Marie den seidenen Vorhang zur Seite schob und aus dem Fenster schaute, schossen ihr Tränen in die Augen, so grell schien die Sonne. Sie blinzelte.
Festtagswetter!
Als sie kurze Zeit später, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, ins Frühstückszimmer kam, sah sie zu ihrer Erleichterung sowohl Ruth als auch Wanda am Tisch sitzen. Beide waren blass – es war das erste Mal, dass Marie Ruth ungeschminkt antraf –, beide schienen ziemlich unglücklich zu sein, aber wenigstens redeten sie miteinander.
Einen Moment lang war Marie versucht, von dem Wunder zu erzählen, das ihr in der Nacht widerfahren war. Doch als Steven ihr mit ernster Miene ihren Stuhl zurechtschob, verwarf sie den Gedanken wieder.
Natürlich kreiste das Gespräch nur um das eine Thema. Wanda konnte noch immer nicht verstehen, warum ihre Eltern all die Jahre geschwiegen hatten. Warum? Wieso habt ihr nicht … Wie konntet ihr nur …
Ruth und Steven wechselten sich mit Erklärungsversuchen ab.
Eher, um etwas zu tun zu haben, denn aus echtem Hunger langte Marie nach dem Brotkorb.
»Du sitzt hier und vertilgst seelenruhig ein Brötchen nach dem anderen, als wenn nichts gewesen wäre!«, fuhr Ruth sie plötzlich an, nachdem Wanda wieder einmal in Tränen ausgebrochen war. »Ist es zu viel verlangt, dass du dich an diesem Gespräch beteiligst?«
Marie ließ ihr Honigbrötchen sinken. »Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich …« Ihr Blick suchte die Kaminuhr, die hinter Steven auf einem Konsolentisch stand. »Schon so spät!« Ihr Stuhl schrammte auf dem polierten Marmorboden nach hinten. Sie schaute ein letztes Mal in die Runde. »Es tut mir leid … Aber wenn ich mich jetzt nicht beeile, bin ich noch im Nachthemd, wenn Franco kommt!«
»Ja, renn du nur deinem Vergnügen hinterher! Wir können ja in der Zeit die Suppe auslöffeln, die du uns eingebrockt hast!«, schrie Ruth ihr nach.
Marie konnte es kaum erwarten, aus dem Haus zu kommen. Sie freute sich so sehr auf Franco! Mit schlechtem Gewissen bürstete sie ihre Haare, schminkte sich die Augen und trug zur Feier des Tages sogar etwas Rouge auf. Ihre Haare flocht sie zu einem schlichten Zopf, den sie wie einen Kranz um ihren Kopf legte. Ruth würde ihre Frisur unsäglich altmodisch finden, doch Marie stand gerade heute der Sinn danach.
Mit Sorgfalt wählte sie auch ihre Garderobe: An einem Sommertag wie diesem konnte man nur eine Farbe tragen: Weiß! Sauberes, strahlendes Weiß. Dazu viele Rüschen und feiner Spitzenstoff.
Als sie Punkt ein Uhr wie ein Dieb aus dem Apartment schlich und nach unten in die Empfangshalle ging, wo sie Franco treffen sollte, fühlte Marie sich genauso romantisch, wie sie aussah.
»Wie eine Braut«, flüsterte Franco bei ihrem Anblick.
»Schöner noch«, korrigierte er sich im nächsten Atemzug.
»Wie die Jungfrau Maria!«
Mehr Marie als Jungfrau, lag es ihr auf den Lippen, doch sie schluckte ihre Erwiderung herunter – Franco schätzte Frivolitäten aus Frauenmund nicht sonderlich.
»Tausend Dank für das wunderschöne Diadem, es ist viel zu wertvoll für mich«, sagte sie stattdessen.
Franco zog sie zu sich heran. »Zu wertvoll? Soll etwa billiger Tand den Kopf einer Königin zieren?«
Sein Kuss ließ ihre Knie weich werden. Sie drängte sich noch enger an ihn. Wie konnte man nur so verliebt sein?
Von Anfang an hatte Franco sie nur zu berühren brauchen, und schon wurde ihr ganz wunderlich zumute. Er roch so gut, ihr schöner Italiener! Immer öfter stellte Marie sich vor, wie es wohl wäre, in seinen Armen zu liegen. Nackt und leidenschaftlich. Verflixt, sie wollte nicht, dass er sie als Jungfrau betrachtete! Sie wollte mit ihm Liebe machen, alles in ihr drängte danach. Die Frage war nur: Wie brachte sie ihn dazu? Sie war nicht wie Sherlain, die sich einen Mann einfach ins Bett holte, wenn er ihr gefiel. Sie konnte ihr Begehren auch nicht äußern – nicht einmal andeuten konnte sie es! Wie um alles in der Welt hätte sie das machen sollen? Ach, wenn sie nur nicht so schrecklich unbeholfen in dem Spiel
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