Die Amerikanerin
frischer Tag gewesen, mit heftigem Regen am Vormittag, und nun, gegen Abend, wurde es empfindlich kühl. Fröstelnd suchte Wanda ihren Lieblingsplatz auf, den kleinen Kaminvorsprung. Nicht mehr lange, dann würden kalte Winde den Aufenthalt hier oben unmöglich machen.
Ihre Ankunft wurde von einem Taubenpaar mit einem neugierigen »Gurrgurr« kommentiert. Wanda scheuchte die Vögel davon. Heute gab es keine Krumen von deutschem Brot, keine Geschichten aus der Heimat. Ehe sie sich versah, kullerte eine Träne ihre Wange hinab.Sie vermisste Marie so sehr!
»Was soll ich nur tun?«, flüsterte sie, während die beiden Tauben durch eine Regenpfütze trippelten.
»Jeder Mensch hat eine Aufgabe im Leben, man muss sie nur erkennen. Das gilt auch für dich«, hatte Marie behauptet. Aus ihrem Mund hatte sich das so wahrhaftig angehört!
Wanda strich über die kühle Steinplatte, auf der sie saß. Noch vor einer Woche war sie warm gewesen, und Marie hatte neben ihr gesessen, einen Zeichenblock auf den Knien. Trotz Wandas Protesten hatte sie darauf bestanden, ein Porträt von ihr zu malen. »Wie in alten Zeiten, als du noch ein Säugling warst und kaum krabbeln konntest. Deine Mutter hätte damals die Wände mit Bildern von dir tapezieren können, so oft habe ich dich gemalt!«, hatte Marie lachend zugegeben. Und Wanda hatte ebenfalls lachend erwidert, dass Ruth davon heutzutage wahrscheinlich nichts mehr wissen wollte. Es war einer dieser sonnigen Augenblicke gewesen, in denen alles leicht und unbeschwert erschien. Als Marie mit dem Porträt fertig war, hatte sie den Block so behutsam zugeklappt, als wäre er wertvoll wie pures Gold. »So kann ich wenigstens etwas von dir mitnehmen«, hatte sie sanft geflüstert. Und der sonnige Moment war verstrichen.
Es war ihr Abschiedsgespräch gewesen.
Wanda hatte es Marie dabei nicht leicht gemacht. Es waren Tränen der Enttäuschung geflossen und harsche Worte gefallen. Marie ließe sie im Stich, hatte Wanda ihr vorgeworfen und sie damit sichtlich verletzt – es hätte nicht viel gefehlt, und Marie wäre ebenfalls in Tränen ausgebrochen.
»Es tut mir leid, wenn du das so siehst«, hatte sie geantwortet. »Aber ich kann dir nicht weiterhelfen. Und ich könnte es auch nicht, wenn ich noch ein paar Wochen länger bliebe! Du musst selbst herausfinden, was du in Zukunft machen willst.« Danach hatte sie das mit der Aufgabe im Leben gesagt.
Wie gern hätte Wanda ihr geglaubt! Stattdessen erwidertesie: »Und wenn ich die unrühmliche Ausnahme bin? Vielleicht hat der liebe Gott mit mir einen völlig unnützen Menschen geschaffen? Du musst doch zugeben, dass es ganz danach aussieht.«
Marie lächelte. »Du ungeduldiges Ding! Vielleicht war der liebe Gott der Ansicht, dass er es dir nicht so leicht zu machen braucht wie anderen Frauen. Sonst hätte er deinen Harold doch längst veranlasst, dir einen Heiratsantrag zu machen, oder? Und ehe du dich versehen hättest, wärst du eine verheiratete Frau mit einem Säugling auf dem Schoß gewesen.«
»Was nicht ist, kann ja noch kommen«, antwortete Wanda dumpf. Harold hatte in letzter Zeit so seltsame Andeutungen gemacht, dass sich in seinem Leben demnächst einiges ändern würde und so weiter. Und dass diese Änderungen auch sie betreffen würden. Wanda hatte jedes Mal eilig das Thema gewechselt.
»Und wenn meine Aufgabe im Leben tatsächlich darin besteht, die Ehefrau eines Bankiers zu werden?« Allein den Gedanken fand sie schrecklich!
»Es gibt Frauen, deren Liebe zu einem Mann tatsächlich ihren ganzen Lebensinhalt ausmacht. Deine Mutter ist so ein wundersames Wesen«, antwortete Marie grinsend. »Ich persönlich könnte mir so etwas für mich jedoch nicht vorstellen. Sosehr ich Franco liebe – wenn er mir nicht versprochen hätte, dass ich weiterhin arbeiten darf – ich glaube nicht, dass ich mit ihm gehen würde. Aber er ist ja so lieb und großzügig! Er reist nur mir zuliebe auf den Monte Verità, kannst du dir das vorstellen?«
Wanda runzelte die Stirn. »Ich dachte, ihr fahrt wegen Sherlain in die Schweiz?« Pandora hatte etwas von einer verschleppten Krankheit gesagt, die die Dichterin dringend auskurieren musste.
Marie erklärte ihr daraufhin, dass sie mit ihrem Besuch am Lago Maggiore zwei – nein, eigentlich waren es sogar drei –Fliegen mit einer Klappe schlagen würden: Zum einen würden sie Sherlain in eine gesunde Umgebung bringen, weit weg von den schädlichen Einflüssen der Großstadt. Zum anderen reizte
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