Die Amerikanerin
Fachlektüre!«, brauste Franco auf. »Schuld ist diese elende Hütte, in der wir hausen! Von wegen Licht-Luft-Häuser! Die Doggen meines Vaters haben es komfortabler! Das war unsere letzte Nacht in dieser Bretterbude, gleich nachher ziehen wir ins Casa Semiramis!«
Wütend schaute er sich in ihrer Bleibe um. Er hatte von Anfang an ins Hotel ziehen wollen, das wenigstens ein bisschen Komfort versprach. Doch dann hatte er sich von Marie bei ihrem ersten Rundgang über das Gelände zu einer der kleinen Holzhütten überreden lassen, die über den ganzen waldigen Grund verteilt waren.
»Wie romantisch!«, hatte sie gerufen. Was für ein amüsanter Gedanke, die Morgentoilette auf der Holzveranda mit lediglich einem Eimer Wasser zu erledigen! Sherlain hatte ähnliche Entzückensschreie ausgestoßen. Pandora jedoch hatte den Gedanken, Mutter Erde so nah zu sein, schlichtweg abschreckend gefunden.
»Wenn das Hausen im Hühnerstall so gemütlich ist, warum haben sich dann ausgerechnet Henri Oedenkoven und Ida Hoffmann eine Villa mit Strom und fließendem Wasseranschluss gebaut?«, hatte sie gefragt. Dass die beiden Besitzer des Geländes wesentlich luxuriöser als ihre Anhänger lebten, war eine der vielen Besonderheiten der Kommune. Letztlich hatten sich die beiden Freundinnen ein Zimmer in dem kleinen Hotel genommen, das am Rande des Geländes stand und einen spektakulären Blick über den See bot. »Die Müden finden Ruhe, Frieden und Freiheit und können neue Kräfte sammeln«, hattePandora den Hotelprospekt zitiert und gemeint, dass sie dort genau richtig wären.
Wütend zog Franco an seiner Zigarette. Warum hatte er sich darauf eingelassen, wie ein Urmensch im Wald zu hausen?
Schon in der ersten Nacht hatte Marie nicht gut geschlafen – zu viele fremde Geräusche, Rascheln im Laub, das Knacken kleiner Äste wie von Fußtritten, hatten sie angestrengt lauschen lassen. Das hatte sie ihm allerdings erst am nächsten Morgen gestanden – nach einer kleinen Zechtour durch die Trattorien Asconas hatte er nämlich geschlafen wie ein Murmeltier. Außerdem habe sie sich ständig beobachtet gefühlt, hatte sie weiter offenbart. Kein Wunder, wo es hier keine Vorhänge gab und man die Fenster auch nicht mit Klappläden schließen konnte. »Wer soll uns mitten in der Nacht beim Schlafen zuschauen?«, versuchte er sie zu beruhigen und schlug vor, ins Hotel zu ziehen. Doch davon wollte sie nichts hören. Dann solle sie wenigstens abends mit ihm hinunter nach Ascona gehen, der hiesige Wein würde ihr schon ausreichend Bettschwere verleihen, bat er. Aber auch diese Idee hatte nicht ihre Zustimmung gefunden. Ob sie vom Monte Veritànischen Virus der Enthaltsamkeit schon völlig infiziert worden sei, hatte er von ihr wissen wollen. Doch Marie hatte nur gelacht, ihre Bluse aufgeknöpft und ihn aufgefordert herauszufinden, wie weit es mit ihrer Enthaltsamkeit her sei. Danach war nicht mehr die Rede davon gewesen, ins Hotel zu ziehen. Er spürte, wie seine Lust erwachte. Sanft strich er mit seiner Hand über ihre Brust. Keine schlechte Idee, sie auf andere Gedanken zu bringen …
Im nächsten Moment entwand sich Marie seiner Umarmung.
»Genug gejammert! Ich werde mir doch von einem blöden Traum nicht den Tag verderben lassen! Eine kalte Dusche ist genau das, was ich jetzt brauche«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Sie streifte ihr Nachthemd über den Kopf undging nackt nach draußen, nicht, ohne ihm zuvor eine neckische Kusshand zuzuwerfen.
Franco schaute ihr nach. Was war an dieser Frau, dass sie ihn so um den kleinen Finger wickeln konnte? Seit er mit Marie zusammen war, kannte er sich manchmal selbst nicht mehr. Ihr zuliebe ließ er sich auf Dinge ein, die ihm früher nie in den Sinn gekommen wären. Wie dieser Zwischenstopp hier in Ascona. Es hatte ihn einige Überredungskunst gekostet, die drei Extrawochen bei seinem Vater herauszuschinden, er hatte dafür versprechen müssen, nach seiner Heimkehr umso mehr zu arbeiten. Andere Männer hätten auch Liebschaften, ließen sich davon jedoch nicht von der Arbeit abhalten, hatte der alte Conte ihm vorgeworfen. Worauf Franco hitzig erwiderte, dass es sich um mehr als eine Liebschaft handele, dass er nämlich in Marie die Frau gefunden habe, auf die er schon sein Leben lang wartete. Sein Vater konnte sich kaum vorstellen, dass eine amerikanische Reisebekanntschaft über mehr Tugenden verfügte als die vielen blaublütigen Marchesas und Contessas – lauter potenzielle
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