Die Amerikanerin
hatte das Gefühl, als würde alles um sie herum einstürzen und sie unter sich begraben. Tief in ihrem Inneren hallte plötzlich Sherlains bittersüße Stimme.
»I give you my blood, sweet lamb of mine, to still your thirst, to strengthen your spine …«
Andere, fremde Stimmen mischten sich ein.
»Man muss die dunkle Seite der Stadt sehen wollen …«
»New York ist ein Menschen fressender Moloch …«
»Am Ende sind es immer die Frauen, die mit dickem Bauch dastehen!«
»Wir müssen reden. Ich reise in zwei Wochen ab.«
New York ohne Franco?
Alleine.
Ohne ihre große Liebe.
Mit einem Aufschrei hielt Marie sich die Ohren zu. Sie presste sich an Francos Brust. Erst in der Sicherheit seiner Arme wagte sie es, den Atem, den sie unwillkürlich angehalten hatte, langsam wieder auszustoßen. Die Stimmen verstummten.
Sie wehrte sich nicht, als Franco sie die Treppe hochtrug. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Pandoras Blick, der sie nicht aufhielt.
Auf der Straße angekommen, setzte Franco Marie sanftauf dem Boden ab. Er hob ihr Kinn an, wischte mit dem Daumen ihre Tränen weg.
»Alles hat seinen Preis, mia cara . Sherlain hätte wissen müssen, dass sie ihn irgendwann bezahlen muss, als sie sich mit all den Männern einließ.« Seine Stimme klang hart. »Oder hat sie jemand gezwungen, sich wie eine Hure zu benehmen?«
Nicht jetzt. Nicht das.
»Ich will nicht darüber reden«, sagte Marie müde. Er zuckte mit den Schultern.
Eine Zeitlang gingen sie schweigend wie zwei Fremde nebeneinander her. Es hatte kurz zuvor geregnet, die Straßen waren leer. Das Licht der Straßenlaternen schimmerte trüb in den Pfützen. Immer wieder kreuzten Ratten, die sich in anderen Nächten erst viel später aus den Schatten der Hauswände auf die Gehsteige wagten, ihren Weg. Bei der ersten schrie Marie vor Schreck auf.
Franco drehte sich um, doch als er erkannte, dass von nirgendwo Gefahr drohte, ging er weiter.
Marie redete sich ein, froh zu sein, dass er sie in Ruhe ließ. Doch nach zwei Blocks konnte sie seine Distanz nicht länger ertragen. Sie schluckte hart, um das Knäuel in ihrer Kehle loszuwerden. Dann packte sie ihn am Ärmel und riss ihn zu sich herum.
Sein Blick war kühl.
»Franco, ich will mich nicht mit dir streiten. Bitte …, ich …« Sie schrie auf, als eine Ratte direkt über ihren rechten Schuh huschte. Plötzlich widerte Marie alles an: die Straßen, der Müll auf den Gehsteigen, die Häuserfluchten, die den Mond versteckten. Und zu Hause Ruth mit ihren vorwurfsvollen Blicken. Und Wanda mit ihrer Opfermiene.
»Es ist diese verdammte Stadt! Sie ist schuld, dass die Menschen nicht mehr wissen, was sie tun!«
»Und da soll ich dich in diesem Hexenkessel nächste Woche allein zurücklassen?«, kam es leise von Franco.
»Nein.« Auf einmal war sich Marie ganz sicher. »Bring mich hier weg!«
Und als er nicht gleich antwortete, wiederholte sie: »Bring mich weg aus New York.«
ZWEITES BUCH
»Sternentanz auf der Seele,
Herz schimmert im Mondglanz.
Die Sonne Deine Schwester –
dann wähnst Du Reisender
Dich der Wahrheit
einen Wimpernschlag lang
sehr nahe.«
1
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich habe keine Ahnung!«, schrie Ruth in den Telefonhörer. »Auf alle Fälle kommt sie nicht wie ursprünglich geplant Ende September nach Lauscha zurück. Sie hat mir auch nur das gesagt, was sie euch geschrieben hat, nämlich, dass sie mit diesem Franco in die Schweiz gereist ist. … Natürlich ist sie in ihn verliebt – was ist denn das für eine Frage?! Den Kopf hat er ihr verdreht, dieser Italiener, und frag nicht wie! Anders ist ihr Verhalten doch gar nicht zu erklären.«
Zum wiederholten Male versuchte Wanda, ihre Mutter auf sich aufmerksam zu machen, doch Ruth tat so, als ob sie nichts davon mitbekäme.
»Die beiden Frauen, die mit ihr reisen? Ob das Freundinnen von mir sind?« Sie lachte harsch auf. »Um Gottes willen, nur das nicht! Ich kenne die beiden nicht einmal. Das heißt, das stimmt nicht ganz: Ich hatte zumindest das zweifelhafte Vergnügen, die eine von ihnen, Wandas Tanzlehrerin, vorgestellt zu bekommen!« Sie bedachte Wanda mit einem ärgerlichen Blick. »Die andere soll Dichterin sein. Ihre Freundinnen nennt sie die beiden! Zwei ganz liederliche Weibsbilder sind das, das sag ich dir! Auf solche hätte man bei uns in Lauscha mit dem Finger gezeigt!«
»Frag Tante Johanna, ob ich …«
Ruth winkte erneut ab. Rote Flecken erschienen auf ihren blass geschminkten
Weitere Kostenlose Bücher