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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Doch dann nahm mir jemand dieses Ding ab und das Essen war vorbei. Später schlug ich den Gegenstand nach und erfuhr, was es war.«
    »Was war es denn?«, fragte ich, als sie nicht gleich weitersprach.
    Sie sah mich mit finsterer Miene an. »Das Werkzeug für eine
Nadelprobe
. Sie kamen im 16 . und 17 . Jahrhundert bei den europäischen Hexenverfolgungen zum Einsatz. Sie wurden aus Edelmetall gefertigt und mit kunstvollen Gravierungen versehen. Der Scharfrichter stach damit in den gesamten Körper der angeklagten Frau, die meist nackt ausgezogen wurde. Wenn er dann auf eine Stelle stieß, die weder blutete noch Schmerzen verursachte, hatte er das Hexenmal entdeckt. Wenn er tatsächlich so eine Stelle fand, lag das natürlich daran, dass sie nicht mehr schreien konnte, weil sie rund dreihundertmal mit dieser Nadel gestochen worden war, das Bewusstsein verloren hatte und jetzt langsam verblutete. Diese Teile, diese altertümlichen Folterwerkzeuge, sind heute bei bestimmten Sammlern sehr begehrt.«
    Nora war so gefesselt, dass sie vergessen hatte, den großen Bissen Kuchen in ihrem Mund zu kauen. Ein Krümel fiel ihr von den Lippen und sie las ihn hastig vom Saum ihres Pullovers auf. Sie schluckte deutlich hörbar.
    »Aber bald dachte ich nicht mehr an das bizarre Mittagessen, denn eine maskulin aussehende Hausfrau mit verschwitztem Gesicht und schwarz schimmernden Augen verkündete, dass Cordova bereit sei, mich zu empfangen. Ich wurde über verschiedene Flure in einen großen Raum mit Kamin geleitet, der voller Aktenschränke stand. In der Mitte des Raumes stand ein langer Esstisch. Ein Mann saß an einem Ende. Er wirkte wie ein König auf seinem Thron, um ihn herum lagen Stapel von Papier, Fotos von Schauplätzen und Kostümen und Notizen zu Szenen. Er war dick, aber nicht auf groteske Weise, wie Orson Welles es später war, oder Hitchcock, oder sogar Brando. Seine Körperfülle wirkte irgendwie
vornehm
. Er hatte ein rundes Gesicht und volles schwarzes Haar, und er trug eine Brille, mit runden Gläsern, schwarz wie Tinte. Er sah gut aus. Zumindest glaube ich, dass er gut aussah. Er hatte diese Art Gesicht, die einen packte. Und trotzdem konnte man sich eine Minute später schon nicht mehr daran erinnern, als könne das Gehirn sich die Züge nicht merken, so wie man sich keine unendliche Zahl merken kann. Möglicherweise lag es an der Brille, dem Fehlen der Augen. Einen Augenblick lang dachte ich, er sei blind, aber das war er nicht, denn er starrte mich wortlos an und wies mich dann darauf hin, dass ich Petersilie am Mund hatte. Hatte ich
tatsächlich
, sehr zu meinem Leidwesen. Und dann fragte er, ob ich in seinem Film mitspielen wollte. Natürlich sagte ich sofort ja,
oh ja
. Ich war schon seit ›Figuren‹ ein großer Fan. Er lächelte. Dann fing er an, mir eine Reihe gezielter Fragen zu stellen, die immer persönlicher und beunruhigender wurden. Er wollte wissen, ob ich eine Familie hatte, einen Freund, ob ich sexuell aktiv war, wie oft ich zum Arzt ging, wer mein nächster Verwandter war. War ich gesund? War ich leicht zu erschrecken? Das war etwas, das ihn sehr interessierte; er wollte genau wissen, wovor ich mich fürchtete: vor Höhen, Spinnen, dem Ertrinken, dem Meer. Wie starken körperlichen Schmerz hatte ich bisher ertragen? Was war mein schlimmster Albtraum? Mir kam langsam der Verdacht, dass diese Fragen nicht in erster Linie dazu dienten, mich kennenzulernen oder herauszufinden, ob ich die Richtige für die Rolle war, sondern zu erfahren, wie isoliert ich war, und wer es bemerken würde, wenn ich verschwand oder mich auf irgendeine Weise veränderte. Ich fragte immer wieder, was meine Rolle sein sollte. Ich wollte unbedingt das Drehbuch sehen. Er reagierte auf meine Bitten mit Schweigen und einem wissenden Lächeln. Schließlich kam jemand in den Raum – eine Frau – und brachte mich hinaus. Es fühlte sich an, als sei ich mehr als eine Stunde lang ausgequetscht worden. Dabei waren es nur fünfzehn Minuten gewesen.«
    Olivia holte tief Luft und goss uns mit ihrer gesunden Hand Tee ein. Als sie die kleine Zange nahm, um ein Stück Zucker in ihre Tasse zu werfen, bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass ihre Hand zitterte.
Sie war nervös.
    »Es hieß«, fuhr sie fort, »dass wir nach dem Abendessen weiter über ›Daumenschraube‹ sprechen würden. Ich war einverstanden. Ein Dienstmädchen brachte mich auf mein Zimmer. Das Haus war gigantisch und mein Zimmer eine Suite, eine Wand war voller

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