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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Jahre später löste er bei mir das Gefühl aus, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben. Die Frage, auf die ich eine Antwort suchte, nagte an mir, kaum spürbar. Das Abendessen sollte ganz in der Nähe stattfinden, einmal über die Park Avenue in der 71 st Street. Wenn ich mich dort unwohl fühlte, konnte ich jederzeit einfach nach Hause gehen.«
    Ich sah zu Nora hinüber, die kaum merkbar nickte. Sie hatte die gleiche Verbindung hergestellt wie ich. Das Stadthaus, in das Hopper am Vorabend eingebrochen war, befand sich in der East 71 st Street; Olivia musste sich auf genau dieses Haus beziehen. Auch die Empfindung, die sie beschrieb, kannte ich, dieses Gefühl, mit Cordova noch nicht fertig zu sein, das Bedürfnis nach einer Lösung, nach einem Ende, und wie es jahrelang an einem knabberte; ich empfand das Gleiche.
    »Ich war inzwischen fünfzig Jahre alt, nicht mehr so ein naiver Angsthase. Ich war seit zwanzig Jahren verheiratet und hatte drei Jungs großgezogen. Es würde verdammt viel mehr dazugehören, mich zu erschrecken.«
    Sie beugte sich vor und nahm ein weiteres Stück Kuchen. Die drei Pekinesen ließen es nicht aus den Augen. Es brach ihnen offensichtlich das Herz, als sie es sich selbst in den Mund steckte und kaute.
    »Das Essen war wunderbar, aber seltsamerweise war Cordova gar nicht anwesend. Nur seine Frau Astrid war da und erklärte, ihr Mann sei bei Arbeiten auf dem Land aufgehalten worden und würde es nicht schaffen. Das verunsicherte mich. Ich hatte den Verdacht, dass etwas nicht stimmte, als wäre das Ganze eine Falle. Aber die Gäste waren ganz wunderbar, zwei von ihnen kannte ich noch aus meiner Zeit am Theater. Bald zerstreuten sich meine Bedenken. Ein russischer Opernstar war dabei, ein dänischer Wissenschaftler, eine französische Schauspielerin, die für ihre Schönheit bekannt war – doch im Zentrum der Aufmerksamkeit stand eindeutig Cordovas Tochter, Ashley. Sie baute sich damals gerade eine recht steile Karriere als Pianistin auf. Sie war zwölf, das schönste Kind, das ich je gesehen hatte, fast durchsichtige Augen. Sie spielte für uns. Schubert, etwas von Bach, einen Satz aus Strawinskis ›Petrouchka‹, und dann setzte sie sich zum Essen zu uns. Interessanterweise entschied sie sich für einen Platz direkt neben mir. Ich fühlte sofort ein Befremden. Ihre Augen waren so schön, aber auch so …«
    Olivia ballte die Faust und runzelte die Stirn.
    »Was?«, ermunterte ich sie.
    Sie sah mir in die Augen. »
Alt.
Sie hatten zu viel gesehen.«
    Sie atmete tief durch und lächelte betrübt.
    »Das Essen war phantastisch. Die Gespräche faszinierend. Ashley war reizend. Doch wenn sie schwieg, schien sie abwesend zu sein, als hätte sie sich davongestohlen, in eine andere Welt. Nach dem Essen schlug Astrid ein japanisches Spiel vor, von dem sie behauptete, dass die Familie es oft nach dem Abendessen spielte und das sie von einem echten japanischen Samurai gelernt hatten, der offenbar bei ihnen wohnte. Es wurde
Das Spiel der hundert Kerzen
genannt. Ich schlug später den japanischen Begriff nach.
Hyakumonogatari Kaidankai
heißt es dort. Haben Sie davon schon gehört?«
    »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
    »Das ist ein altes japanisches Gesellschaftsspiel. Es stammt aus der Edo-Zeit, 17 ., 18 . Jahrhundert. Hundert Kerzen werden angezündet. Immer wenn jemand eine kurze
Kaidan
erzählt hat, wird eine Kerze ausgeblasen.
Kaidan
ist Japanisch und bedeutet Geistergeschichte. So geht es weiter, der Raum wird immer dunkler und dunkler, und irgendwann wird die letzte Kerze ausgeblasen. In diesem Augenblick ist ein übernatürliches Wesen im Raum. Meist ist es ein
Onryo
 – ein japanischer Geist, der auf Rache aus ist.«
    Olivia atmete tief ein und wieder aus.
    »Wir begannen zu spielen. Wir waren alle ziemlich betrunken vom Port und Dessertwein. Wir mühten uns mit unseren Geschichten ab, doch wenn Ashley ihre erzählte, waren es ganz prägnante Erzählungen. Ich nahm an, dass sie sie auswendig gelernt hatte – es sei denn, sie war mit ihren zwölf Jahren bereits aus dem Stegreif so eloquent. Ihre Stimme war ruhig und leise, und manchmal klang es, als käme sie aus einer anderen Ecke des Zimmers. Jede ihrer Geschichten war fesselnd, einige waren erschreckend brutal. Ich erinnere mich, dass es in einer um einen Herrn ging, der ein armes Dienstmädchen vergewaltigte und sie am Straßenrand dem Tod überließ. Ich staunte, wie leicht ihr diese Worte über die Lippen gingen, als

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