Die amerikanische Nacht
uns Marlowe vielleicht noch mehr verraten. Selbst in der unzuverlässigsten Zeugin steckt irgendwo die Wahrheit.«
Olivia musterte mich herausfordernd, dann seufzte sie.
»The Campanile. Beekman Place. Apartment 1102 .« Sie drehte sich um und huschte durch die Tür, ihr pelziges Gefolge versuchte hechelnd Schritt zu halten. »Sprechen Sie den Portier an,
Harold
«, schob sie über die Schulter nach. »Ich rufe ihn heute Nachmittag an. Er wird die nötigen Vorbereitungen treffen.«
»Das ist sehr nett.«
»Wenn Sie sie wirklich treffen, erwähnen Sie
nicht
meinen Namen. In Ihrem eigenen Interesse.« Ich hätte schwören können, dass sie kaum sichtbar zufrieden lächelte, als sie das sagte.
»Ich geben Ihnen mein Wort.«
Sie geleitete uns durch die Galerie zum Eingangsbereich, wo der alte Knacker bereits mit unseren Mänteln wartete. Er wirkte so steif, dass ich mir vorstellte, er habe über eine Stunde dort gestanden.
»Vielen Dank«, sagte ich zu Olivia, »für alles. Das ist unbezahlbar.«
»Hoffentlich können Sie etwas ausrichten. Rächen Sie das Mädchen. Sie war etwas Besonderes.«
Ich folgte Nora in den Aufzug, doch dann streckte ich meine Hand aus, um das Schließen der Türen zu verhindern.
»Eine letzte Frage, wenn Sie erlauben, Mrs du Pont.«
Sie drehte sich wieder zu uns um. Den Kopf hielt sie in diesem kunstvollen Winkel zwischen Neugier und Überlegenheit geneigt.
»Wie haben Sie Mr du Pont kennengelernt? Das habe ich mich immer gefragt.«
Sie starrte mich an. Ich dachte, sie würde mir eisig erklären, dass mich das nichts anging. Doch zu meiner Überraschung lächelte sie nach einem Augenblick.
»Im Cedars-Sinai Hospital in Los Angeles. Wir sind in denselben Aufzug gestiegen. Wir wollten beide Marlowe im achten Stock besuchen. Der Aufzug blieb stecken. Irgendwas mit einer kaputten Sicherung. Als er eine Stunde später wieder funktionierte, wollte Mike nicht mehr in den achten Stock, um Marlowe zu besuchen.«
Sie sah mir triumphierend in die Augen.
»Er wollte runter in die Lobby, mit
mir
.«
Mit einem sanften Lädchen machte Olivia gelassen auf dem Absatz kehrt und verschwand in einem dunklen Flur, dicht gefolgt von ihren Hunden.
73
Als Nora und ich das Haus verließen und unter die blassgraue Markise in der Park Avenue traten, war ich überrascht zu sehen, dass es immer noch stark regnete. Ich hatte es oben bei Olivia nicht bemerkt, wahrscheinlich weil ich so von dem gefesselt war, was sie sagte. Oder ihr Apartment war so vornehm, dass es schlechtes Wetter einfach ausblendete, als sei es ein schrecklicher Fauxpas.
Der Portier reichte mir einen Golfschirm, öffnete einen zweiten für sich selbst und lief zur Straße, um ein Taxi für uns heranzuwinken.
»Sie war nicht so, wie ich erwartet hatte«, sagte ich zu Nora. »Sie wirkte offen und ziemlich überzeugend.«
Nora schüttelte atemlos den Kopf. »Ich musste die ganze Zeit an Larry denken.«
»Den Tattookünstler?«
Sie nickte energisch. »Erinnerst du dich, was mit ihm passiert ist?«
»Er ist gestorben.«
»
An einem Aneurysma.
Verstehst du? Da gibt’s ein Muster. Olivia hatte eines und Larry. Beide, nachdem sie Ashley begegnet sind.«
»Soll das heißen, dass sie der Todesengel ist?« Ich meinte es als Scherz, doch dann fiel mir der Vorfall im Six Silver Lakes-Camp ein, von dem Hopper erzählt hatte – die Klapperschlange, die man im Schlafsack des Betreuers fand, und die Überzeugung unter den Camp-Teilnehmern, dass Ashley sie dort hineingetan hatte.
Und natürlich ihr Auftauchen am Reservoir See.
»Olivia hat das Gleiche beschrieben wie Peg Martin«, sagte ich. »Einen Besuch in The Peak. Aber sie haben komplett unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die eine war furchteinflößend. Die andere wie eine Szene aus einem Kindheitstraum.«
»Ich frage mich, welche stimmt.«
»Vielleicht beide. Die Erlebnisse lagen fast zwanzig Jahre auseinander. Olivia sagt, sie sei im Juni 1977 dort gewesen. Das war ein Jahr, nachdem Cordova The Peak gemeinsam mit Genevra gekauft hatte, und zwei Monate, bevor sie ertrunken ist. Peg Martins Picknick fand 1994 statt.«
»Das war gruselig, wie Olivia seine erste Frau beschrieben hat, Genevra, findest du nicht?«
»Die Gefangene, die zu viel Angst hatte, um zu reden.«
Sie nickte. »Und was ist mit dieser Hexennadel?«
»Das bestätigt doch, was Cleo bei
Enchantments
vermutet hat – dass Ashley aus einer Dynastie stammt, in der schwarze Magie praktiziert wurde.«
Nora
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