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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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einem hellroten Regenschirm. Und doch stimmte mit ihm irgendetwas nicht, als ich näher kam, sah ich, was es war: nicht nur war sein schütteres graues Haar zerzaust, als hätte er sich gerade die Mütze abgezogen, sondern auch seine Schultern hoben und senkten sich,
als sei er außer Atem
.
    Wie beiläufig trat ich zu einem Mülleimer, der knapp zwei Meter neben der Bank stand, und drehte mich zu ihm um.
    Es war bloß ein alter Mann. Seine Hand ruhte auf dem Griff eines vierfüßigen Gehstocks, seine Jeans war regennass. Neben ihm auf der Bank lagen ein großer blauer Jansport-Rucksack und der Rest eines Subway-Sandwichs.
    Es muss unverschämt gewirkt haben, wie ich ihn so konzentriert musterte, aber er sah mich nur an, lächelte und murmelte etwas.
    »Wie bitte?«, rief ich.
    »Meinen Sie, wir brauchen die Arche Noah?«
    Ich lächelte höflich und trat an den Rand des Piers. Es regnete jetzt so heftig, dass man kaum einen Unterschied zwischen dem anschwellenden grauen Fluss und dem Regen erkennen konnte.
    Ich drehte mich noch einmal zu dem alten Mann um,
nur um sicherzugehen.
    Er saß immer noch gekrümmt und harmlos da. Der Regen strömte in Sturzbächen von seinem roten Regenschirm.
    Er lächelte wieder und gab mir ein Zeichen, näher zu kommen. Jetzt erkannte ich an seinem erregten Gesichtsausdruck, dass er meine Blicke als eine Art Angebot zum Sex missverstanden hatte.
    Das war ein schwuler alter Knacker, der zum Cruisen hier draußen war.
    Gott im Himmel
.
    »Möchten Sie auch?«, rief er mir zu und sah zu seinem roten Regenschirm auf, was ihm eine rosa Gesichtsfarbe gab. »Ich glaube, ich habe sogar noch einen.« Er leckte sich die Lippen, öffnete den Rucksack und wühlte darin herum.
    Ich hob eine Hand und winkte ab. Dann ging ich schnell zurück, als ein gewaltiger Blitz aufleuchtete, gefolgt vom Rumpeln des Donners. Als ich am Nordende des Piers ankam, sah ich, dass sich eine kleine Menschengruppe am Radweg versammelt hatte. Ich lief darauf zu, drängelte mich durch die Menge der Schaulustigen und sah, wie Hopper und ein anderer Mann eine ältere afroamerikanische Dame stützten.
    Die arme Frau schluchzte und hielt sich ihren schmerzenden Arm. Sie war komplett aufgeweicht und trug nur ein dünnes rosafarbenes Hauskleid.
    »Was ist passiert?«, fragte ich eine Frau neben mir.
    »Sie ist überfallen worden. Das Arschloch hat sogar ihren Gehstock geklaut.«
    Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als ich mich schon wieder zurück durch die Menge kämpfte und so schnell ich konnte den Weg zurückrannte.
    Der alte Mann war bereits weg.
    Als ich die leere Bank erreichte, konnte ich sie nur noch wütend anstarren.
    Dort lagen der rote Regenschirm, der Rucksack, Gehstock und Trenchcoat – und das Sandwichpapier.
Der gerissene Mistkerl hatte es wahrscheinlich aus dem Mülleimer geholt, damit es so aussah, als würde er dort in aller Ruhe zu Mittag essen.
    Genau dort, wo er gesessen hatte, lag ein kleiner weißer Schnipsel Papier auf der Bank.
    Ich hob ihn auf. Es war meine Visitenkarte.

75
    Ich brachte der Frau ihre Sachen zurück.
    Alles gehörte ihr: der blaue Jansport-Rucksack, der rote Regenschirm, der Gehstock und der Mantel. Geld fehlte keines. Der Angreifer war von hinten gekommen, hatte ihr die Sachen brutal entrissen und sie auf den Gehweg geschubst.
    »Das war
auf keinen Fall
ein alter Mann!«, rief Hopper über den Wolkenbruch hinweg, als wir über die Greenwich Street zurück zur Perry Street liefen.
    »Wenn ich’s dir sage. Der
war
alt.«
    »Dann hat er aber sein verdammtes Müsli gegessen, der hat beschleunigt wie ’ne Suzuki. Was hat er gestohlen?«
    »Das werden wir gleich herausfinden.«
    Wir liefen schneller. Ich war zu aufgeregt, um nachdenken zu können, alles war so schnell gegangen. Doch ich hatte das Gefühl, als hätte ich Nora nicht ganz so sorglos zurücklassen dürfen. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass der Einbrecher einen Komplizen haben könnte.
    Wir traten in mein Haus. Im Treppenhaus war sie nicht.
    »Nora!«
    Ich stieß die Tür auf und lief über den Flur. Im Wohnzimmer hatte er nichts angerührt. Ich hetzte in mein Büro und erstarrte.
    Es sah aus wie nach einem Erdbeben. Blätter und Kartons, Akten, ganze Regale waren durchwühlt und auf den Boden geworfen worden. Es regnete durch ein offen stehendes Fenster auf den Fußboden. Nora durchwühlte verzweifelt das Chaos.
    »Was ist los? Bist du verletzt?«
    »Er ist weg.«
    »Was?«
    Sie war panisch. »Septimus. Ich

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