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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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alles aus der Entfernung, durch Panzerglas und Telefon und Besuchszeiten. Nichts schmeckt nach was. Überall sind nur Gitterstäbe.« Er lächelte. »Man kann nicht entkommen.«
    Er hob den Kopf und sah uns konzentriert an, als habe er sich gerade erinnert, dass wir da waren. Eigentlich wirkte er erleichtert.
    Und dann begann er einfach so, alles über sie zu erzählen, während der Regen wie eine belagernde Armee gegen die Scheiben prasselte.

78
    »Ich habe euch nicht angelogen«, sagte Hopper. »Ich
habe
Ashley im Six Silver Lakes-Camp kennengelernt. Und diese Wette, die gab es wirklich. Sie
hat
mich abblitzen lassen. Und diese Sache mit dem Jungen, über den sich alle lustig gemacht haben. Orlando. Als er das Ecstasy genommen hat und Ash die Schuld auf sich nahm.
Das war so
, okay? Was ich nicht erzählt habe, ist, dass ich um jeden Preis von da abhauen wollte.«
    »Aus dem Six Silver Lakes-Camp?«, fragte ich.
    Er nickte. »Ich hatte die Schnauze voll von der ganzen Aktion. Nach der Sache mit der Klapperschlange lagen immer noch sechs Wochen vor uns. Ich konnte mir diese Scheiße nicht mehr reinziehen. Klar, dank Ashley hatte Hawk Feather eine Scheißangst, aber was brachte uns das? Es war jeden Tag achtunddreißig Grad heiß. Die Jugendlichen waren angehende Serienmörder, die Betreuer perverse
Wichser
. Nachts konnte man hören, wie einer von ihnen, Wall Walker, sich in seinem Zelt einen runterholte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er versuchen würde, jemanden dazuzuholen. Das einzige Mädchen, mit dem es sich zu reden lohnte, Ash, wollte nichts von mir wissen. Also hab’ ich mir gedacht,
leckt mich doch
. Eine der Betreuerinnen, diese Seelenklempnerin Horsehair, guckte ständig auf eine Karte, die sie in ihrem Rucksack versteckt hielt. Sie dachte, wir würden es nicht merken. Eines Nachts, als sie in einem Einzelgespräch mit einem der Mädchen war, hab’ ich sie gestohlen. Auf der Karte konnte ich sehen, dass man ziemlich bald zu einer Fernstraße in Richtung Nevada kam, wenn man es aus dem Zion Nationalpark heraus schaffte. Wenn ich die Straße erreichen würde, könnte ich per Anhalter mit einem Trucker mitfahren. Ich bin schon mit Truckern gefahren. Die meisten hassen die Polizei, deshalb kann man ihnen absolut vertrauen. Die anderen sind so sehr auf Crystal Meth, dass sie gar nicht mitkriegen, wer da neben ihnen sitzt. Mein Plan war, mich nach Vegas durchzuschlagen. Horsehair hat richtig Stress gemacht wegen der gestohlenen Karte, wir alle wurden am Lagerfeuer verhört. Unsere Rucksäcke wurden durchsucht, aber sie haben nichts gefunden. Die anderen Betreuer glaubten, Horsehair habe die Karte verloren. Aber ich hatte sie unter der Einlegesohle meines Wanderschuhs versteckt. Ich entwarf einen Fluchtplan. Ich würde mir mein Essen einteilen und das Gesparte unten in meinem Schlafsack aufbewahren. Dann würde ich warten, bis wir den Lagerplatz erreichten, der am nächsten an der Fernstraße lag. Ich hatte mir ausgerechnet, dass wir in drei Tagen dort sein würden. Von dort aus war die Straße eine halbe Tageswanderung entfernt. Ich würde mich davonschleichen, wenn alle schliefen. Einer der Betreuer, Four Crows, sollte in der Nacht Wache halten, aber er legte sich immer heimlich um ein Uhr nachts hin, das war also kein Problem. Aber an eines hatte ich nicht gedacht. Orlando.«
    Hopper fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Wir haben uns ein Zelt geteilt. Am Anfang wird jedem ein Zeltpartner zugewiesen. Meiner war Orlando. Eines Nachts lag ich wach und sah mir die Karte an, als plötzlich seine Stimme aus dem Dunkeln kam: ›Hopper, was hast du da?‹ Er war aufgewacht und hatte mich heimlich beobachtet. Ich wusste nicht, wie lange schon. Ich sagte, ich hätte eine Eidechse gesehen und dass er verdammt nochmal weiterschlafen sollte. Aber er war nicht doof. Er war es gewohnt, dass man ihn anlog. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte er meine Sachen durchsucht und die Karte gefunden. Er sagte, er wisse, dass ich abhauen wollte, und wenn ich ihn nicht mitnähme, würde er es den Betreuern sagen.«
    Er machte eine Pause, um am Scotch zu nippen.
    »Ich glaube nicht, dass jemals jemand nett zu ihm war, ohne dass er ihn vorher erpressen musste. Ich sollte es ihm bei Jesus Christus versprechen – er kam aus North Carolina, seine Eltern waren wiedergeborene Baptisten. Er sprach ständig von Jesus, wie von einem Nachbarn, für den er manchmal den Rasen mähte. Ich sagte, alles klar. Kein Problem.

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