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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Super. Ich schwor bei Jesus’ Namen, dass ich ihn mitnehmen würde. Ich schwor, dass wir ein Team waren. Wie Frodo und Sam.«
    Er sah mich an. »Ich hatte nicht vor, ihn mitzunehmen. Da hätte ich genauso gut mit einem Sofa auf dem Rücken weglaufen können. Er war eine totale Bürde.«
    Er schien Angst vor dem zu haben, was er da sagte. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und starrte wieder konzentriert auf den Couchtisch.
    »Kurz darauf kam dieser Abend. Wir bauten unser Lager genau dort auf, wo es für mich günstig war. Ich erinnere mich, dass der Himmel sternenklar war, als alle schlafen gingen. Diese Stille werde ich nie vergessen. Normalerweise machten die Insekten die ganze Nacht einen Scheißlärm. Aber in dieser Nacht war es so ruhig, als wäre alles Lebendige geflüchtet. Ich stellte meine Uhr so, dass ich um Mitternacht geweckt würde. Aber stattdessen wurde ich von einem der Betreuer geweckt. Die gesamte Gruppe war wach. Es regnete sintflutartig. Der ganze Lagerplatz stand unter Wasser, wir schliefen alle in knöcheltiefem Wasser. Es war Chaos. Die Betreuer schrien herum, wir sollten unsere Zelte abbauen. Wir mussten auf einen höher gelegenen Lagerplatz umziehen, weil sie Angst vor Sturzfluten hatten. Denen war scheißegal, was mit
uns
passierte, sie wollten einfach nicht selber draufgehen. Alle flippten aus und brüllten herum. Niemand wusste, wo seine Sachen waren. Mir wurde klar, dass das mein Glück war, denn in dem Chaos würde es leicht sein, sich davonzustehlen. Ich wusste, wo ich hin musste, wo der Weg verlief. Ich half Orlando, das Zelt einzupacken, und dabei fiel mir Ashley auf. Sie war mit ihrem Zelt schon fertig und wartete auf die anderen. Der Strahl einer Taschenlampe fiel auf ihr Gesicht, und da konnte ich über den gesamten Lagerplatz hinweg erkennen, dass sie mich anstarrte. Dieser
Blick
 – es war, als wüsste sie, was ich vorhatte. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Einige der Jugendlichen brachen schon zum nächsten Zeltplatz auf. Ich ging hinterher. Ich ließ mich zurückfallen, und als sie weit genug weg waren, schaltete ich meine Lampe aus, kletterte einen Felshang hinab und wartete. Ich konnte ein paar der anderen oben auf dem Kamm laufen sehen, einige kämpften immer noch mit ihren Zelten. Es regnete so heftig, dass man im Stockfinsteren keinen halben Meter weit sehen konnte. Sie würden nicht vor dem Morgen merken, dass ich weg war. Ich schaltete meine Taschenlampe wieder an und lief los.«
    Er hielt inne, um zu trinken.
    »Ich war noch keine zehn Minuten unterwegs, als ich hinter mir eine Taschenlampe sah. Es war Orlando. Ich war stinksauer. Ich schrie ihn an, er solle zurückzugehen, aber er weigerte sich. Er sagte immer wieder, ›Du hast es versprochen. Du hast versprochen, mich mitzunehmen.‹ Er hörte gar nicht mehr auf. Ich bin ausgerastet. Hab’ ihm gesagt, dass ich ihn nicht ausstehen könne. Dass er fett sei und alle über ihn lachten. Ich hab’ gesagt, er sei peinlich und ein Schwächling und dass selbst seine Mutter ihn nicht liebte. Dass niemand auf der Welt ihn liebte und nie lieben werde.«
    Jetzt fing Hopper an zu schluchzen, ein gequältes, würgendes Geräusch, das ihn zu zerreißen schien. »Ich wollte, dass er mich hasst. Damit er umkehrt. Ich wollte nicht, dass er mich mag. Ich wollte nicht, dass er zu mir aufsieht.«
    Er atmete tief durch und sagte nichts mehr, den Kopf hielt er in den Händen vergraben. Nach einer Weile wischte er sich das Gesicht in der Armbeuge ab und rückte auf dem Sessel ein Stück nach vorne. Offenbar war er fest entschlossen weiterzuerzählen, sich durch die Geschichte zu kämpfen, weil er sich sonst darin verlieren und ertrinken würde.
    »Ich lief los. Eine Minute später drehte ich mich um und konnte seine Taschenlampe weit hinter mir in der Dunkelheit sehen. Es sah aus, als würde sie kleiner werden, als würde er den Weg wieder zurückgehen. Aber eigentlich konnte ich überhaupt nicht sagen, ob er sich auf mich zu oder von mir weg bewegte. Vielleicht folgte er mir immer noch. Ich lief weiter. Aber eine Stunde später merkte ich, dass es nicht mehr weiterging. Der Weg, den ich nehmen wollte, verlief durch eine Schlucht, die ›The Narrows‹ genannt wird. Als ich durch den Schlamm dort ankam, sah ich, dass dort, wo der Weg sein sollte, ein reißender Fluss war. Es gab keinen Weg hinüber. Ich musste umkehren. Es dauerte ewig, weil der Weg eine einzige Schlammpiste war. Ich war mir nicht sicher, ob ich es

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