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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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bekam.«
    Er lächelte widerwillig und starrte an die Decke, als sei er immer noch erstaunt.
    »In der Betreffzeile stand nur ›Traue ich mich?‹. Ich wusste nicht, was das heißen sollte oder wer die Mail geschickt hatte. Bis ich die Absenderadresse las. Ashley Brett Cordova. Ich dachte, das ist ein Witz.«
    »Traue ich mich?«, wiederholte ich.
    Hopper sah mich an, sein Blick verfinsterte sich. »Das ist aus Prufrock.«
    Natürlich. »Das Liebeslied des J. Alfred Prufrock«. Das war ein Gedicht von T. S. Eliot, eine vernichtende Beschreibung der Lähmung und der unerwiderten romantischen Liebe in der Moderne. Ich hatte das Gedicht seit dem College nicht mehr gelesen, aber ich erinnerte mich noch an einige Zeilen, weil sie sich mir so eingebrannt hatten:
Frauen kommen und gehn und schwätzen so / Daher von Michelangelo.
    »So ungefähr hat unsere Freundschaft angefangen«, sagte Hopper. »Wir haben uns geschrieben. Sie hat nichts von ihrer Familie erzählt. Manchmal erwähnte sie ihren Bruder. Oder was sie gerade lernte. Oder erzählte von ihren Hunden, ein paar Mischlingen. Ihre Briefe waren der einzige Grund, warum ich nicht von da abgehauen bin. Ich hatte Angst, dass unser Kontakt sonst abbrechen würde. Einmal schrieb sie, dass ich aufhören müsste, vor mir selbst davonzulaufen und stattdessen einfach mal stehenbleiben sollte. Und das hab’ ich getan.« Er schüttelte den Kopf. »Als die Frühjahrsferien kamen, wollte ich sie
unbedingt
sehen. Ich denke, ein Teil von mir glaubte gar nicht, dass es tatsächlich Ashley war, der ich geschrieben hatte, sondern etwas, das ich mir ausgedacht hatte. Ich wusste, dass sie in der Stadt war, also ging ich online und fand einen guten Treffpunkt im Central Park, auf der Promenade bei der Konzertmuschel. Ich schlug vor, uns dort zu treffen, am 2 . April, Punkt sieben. Kitschiger geht’s nicht. Das war mir egal. Sie schrieb zwei Tage nicht zurück. Als ihre E-Mail kam, stand darin nur ein Wort. Das beste Wort, das es gibt.«
    »Und welches?«, fragte ich, als er nicht gleich weiter sprach.
    »Ja.«
Er lächelte verlegen. »Ich bin in drei verschiedenen Bussen nach New York gefahren. Ich war einen Tag zu früh da und habe auf einer Parkbank geschlafen. Ich war so verdammt nervös. Als wäre ich noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen. Aber sie war kein Mädchen. Sie war ein Wunder. Irgendwann war es sieben, halb acht,
acht
. Sie kam nicht. Hat mich sitzenlassen. Ich kam mir so bescheuert vor und wollte gerade aufbrechen, als ich plötzlich direkt hinter mir ganz leise eine Stimme hörte, ›Hallo, Tiger Foot‹.« Er sah auf und schüttelte amüsiert den Kopf. »Das war mein verdammter Stammesname im Six Silver Lakes-Camp. Ich drehte mich um, und da stand sie.«
    Er verstummte. Der Gedanke daran verwunderte ihn immer noch.
    »Und das war’s«, sagte er leise. »Wir waren die ganze Nacht auf, unterhielten uns und liefen durch die Stadt. Man kann ewig durch die Straßen laufen, Pause machen an einem Brunnen, Pizza essen oder Snow Cones, und diesen menschlichen Karneval um sich herum bestaunen. Sie war ein unglaublicher Mensch. Bei ihr zu sein, hieß, alles zu haben. Als die Sonne aufging, saßen wir auf der Vortreppe eines Hauses und sahen zu, wie die Straße hell wurde. Sie sagte, das Licht braucht acht Minuten von der Sonne zu uns. Das muss man doch toll finden, dass das Licht einen so weiten Weg zurücklegt, durch den einsamen Weltraum, um hierherzukommen. Es war, als wären wir die beiden einzigen Menschen auf der Welt.«
    Er hielt inne und sah mit einem durchdringenden Blick zu mir auf. »Sie sagte, ihr Vater habe ihr beigebracht, im Leben Grenzen zu überschreiten, sich in die Außenbereiche zu wagen, wozu den meisten Leuten der Mut fehlt, dahin zu gehen, wo es weh tut. Wo es unvorstellbare Schönheit und Schmerz gibt. Sie stellte sich ständig diese Frage,
Traue ich mich? Traue ich mich, das Weltall aufzustören?
Ich glaube, ihr Vater liebte das Gedicht, und die gesamte Familie richtete ihr Leben als Antwort auf diese Frage aus. Sie erinnerten sich ständig daran, ihr Leben nicht
kaffeelöffelweise
zu vertun, morgens und abends, sondern hinabzutauchen, zum tiefsten Grund des Ozeans, wo die
Meerjungfrauen singen, hin und her
. Wo es Gefahren und Schönheit und Licht gibt. Nur das
Jetzt
zählt. Ashley sagte, das sei die einzige Art zu leben.«
    Nach diesem fieberhaften Schwall von Worten verstummte Hopper, um sich zu sammeln. Er atmete tief durch.
    »Genau so

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